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Ohne auf den Befehl des Hohenpriesters zu warten, schwärmten die Tempelwachen aus und versuchten, die Störenfriede in der Gemeinde zu finden und zu isolieren. Die ruhelose Menge schwieg plötzlich, aber hinter ihrem Schweigen lag ein geradezu spürbarer Zorn. Die Spannung lastete schwer auf dem Tempel, wie eine drohende Sturmfront. Noch während die Wachen sie auf dem Altar fesselten, sah die Ärztin den Ausdruck verblüfften Unwillens auf Schwarzkralles Gesicht.

Unter Verzicht auf jedes weitere Zeremoniell trat der Hohepriester mit hoch erhobenem Messer zu ihr. Für Elster verlangsamte sich die Zeit zu einem bösartigen Kriechen. Die Welt bestand plötzlich nur noch aus lebhaften Einzelheiten, von denen ihr Gehirn jede einzelne mit schmerzlicher Deutlichkeit wahrnahm. Jede Pore in Schwarzkralles Gesicht, jede Linie von Ehrgeiz und Unzufriedenheit, die seine Haut durchzog, sprang ihr wie eine Schriftrolle entgegen, ein geöffnetes Buch, in dem sie mühelos lesen konnte. Elster spürte, wie die Ruhelosigkeit der Menge auf sie übergriff. Der Puls so vieler Herzen, die in einem gemeinsamen Ansinnen schlugen, trommelte wie eine vibrierende Harfensaite durch den Tempel. Dann wurde die Welt plötzlich sehr klein und dunkel, als die Ärztin ihre Aufmerksamkeit mit hypnotischer Intensität auf die glitzernde Klinge richtete, die mit tödlicher Absicht über ihr schwebte. Das Messer schoß auf sie zu …

»Feigling!«

»Verräter!«

»Wo ist Königin Rabe?«

»Wir wollen die Königin sehen!«

Elster war erstaunt, daß sie noch lebte, und noch größer war ihre Überraschung angesichts der Entdeckung, daß das Himmelsvolk von Rabes Anwesenheit in Aerillia wußte. Wie hatte Cygnus das geschafft? Sie öffnete die Augen und sah das Messer, das zitternd über ihr schwebte, nur einen winzigen Zoll von ihrem Herzen entfernt.

Schwarzkralles Augen blitzten vor Zorn. »Verfluchtes Weib!« ächzte er. »Wie haben sie das erfahren

Abermals hob er das Messer in die Höhe. »Diesmal gibt es keine Rettung für dich«, zischte er.

Elster sah, wie sein hoch erhobener Arm sich bewegte, und schloß die Augen …

»Wir sind ganz in der Nähe«, sagte Anvar zu den Katzen, die in respektvoller Entfernung vom Erdenstab hinter ihm standen.

»Dann bring es zu Ende!« Shias Stimme war ganz leise vor Anspannung. Der Magusch nickte zustimmend, denn er wußte, daß das Artefakt ihr Ungemach bereitete. Immerhin ging es ihr noch besser als Khanu, der schon seit einiger Zeit nichts mehr gesagt hatte, so sehr litt er unter dem ungewohnten Gefühl der Magie des Stabes.

Sie hatten ihr Ziel jedoch endlich erreicht. Nur eine dünne Felsschicht trennte Anvar noch vom Tempel der Himmelsleute. Und der Priester war dort – er wußte es! Irgendwie machte der Stab ihn besonders empfänglich für das Böse. Der Magusch konnte es fühlen wie einen Strom stinkenden Mülls, der über seinem Kopf durch den Felsen sickerte, und er wurde von dem unbezwingbaren Drang ergriffen, sich den Weg durch den dazwischenliegenden Stein freizukämpfen. Er hob den Stab und …

Tödliche Felsbrocken wirbelten durch den engen Raum im Tunnel, als der Stein über ihm barst. Shia und Khanu gingen fauchend in Deckung. Als Anvar die Öffnung über sich erblickte, sprang er hoch, und seine Finger fanden sofort Halt. Dann zog er sich ein klein wenig über den Rand hinaus, so daß er in den gewaltigen Raum spähen konnte, der vor ihm lag. In Panik geratene Himmelsleute rannten schreiend durcheinander und erhoben sich in die Luft, wobei sich ihre Flügel in dem engen Raum immer wieder verfingen. Der Hohepriester stand über einem gefesselten Opfer auf dem Altar. Anvar sah, wie die Klinge hinunterzuckte … Mit einer gewaltigen Kraftanstrengung zog er sich aus dem Loch und sandte einen Strahl smaragdgrünen Feuers in das Dach des Tempels. Mit einem gewaltigen Aufflackern traf der Strahl sein Ziel. Ein Hagel von Felsbrocken ergoß sich über den Raum, als die Decke aufriß. Schwarzkralle fluchte, blickte auf … In diesem winzigen Augenblick der Ablenkung ging sein Stoß daneben, und die Klinge traf das Opfer an der Schulter.

Zwei geflügelte Wachen schwebten von oben auf Anvar herab. Shia faßte sich schnell und setzte zu einem mächtigen Sprung an; einen Feind erwischte sie mitten in der Luft und riß ihn mit ihren Klauen entzwei, noch bevor er am Boden aufschlug. Wie ein Blitz trat ein lebhaftes Bild von dem mitleiderregenden Fellhaufen in der Höhle vor Anvars inneres Auge. Khanu bekam die andere Wache zu fassen, als diese auf dem Boden landete, und seine Kiefer schlossen sich um die Kehle des Himmelsmannes. Die Luft war erfüllt von Blut und Federn. Als Shia herumwirbelte und nach einem neuen Opfer suchte, zogen sich die übrigen Wachen hastig zurück und flohen – nur um auf einen weiteren, flammenäugigen Schatten zu treffen, der fauchend in dem offenen Eingang stand. Hreeza. Während Anvar sich dem zutiefst entsetzten Hohenpriester näherte, fing er den triumphierenden Gedanken der alten Katze auf: »Ha! Und es gibt doch einen leichteren Weg herauf!«

Schwarzkralle warf Anvar, der von der Macht des Erdenstabs umstrahlt war, einen verängstigten Blick zu, wirbelte herum und floh hinter den Vorhang. Anvar folgte ihm und erreichte den Vorraum gerade noch rechtzeitig, um die Tür, durch die sein Feind entkommen war, zuschlagen zu sehen. Wild vor Zorn verfolgte er den Hohenpriester und riß in seiner Hast beinahe die Tür aus den Angeln. Mit dem Stab der Erde, der seinen Weg beleuchtete, stürmte er eine schmale Treppe hinunter und rannte durch das Labyrinth von Katakomben unter dem Tempel, wobei er sich von dem Klang laufender Schritte leiten ließ.

Als er an eine Stelle kam, an der der Weg sich gabelte, zögerte der Magusch. In welche Richtung war Schwarzkralle gegangen? Er glaubte, das leiseste Echo von Schritten auf seiner rechten Seite zu hören, und wählte diesen Weg. Der schmale Korridor führte wieder nach oben, und Anvar stieg über eine endlose Spirale schmaler Stufen in die Höhe. Höher und höher kletterte er, bis seine Beine schmerzten und er keuchend nach Luft rang. Seit einigen Augenblicken hatte er von Schwarzkralle nichts mehr gesehen oder gehört, und nun begann Anvar sich doch zu fragen, ob er sich nicht vielleicht für die falsche Richtung entschieden hatte.

Das scharfe Zuknallen einer Tür über ihm beseitigte alle Zweifel. Ein einzelnes Fenster auf dem letzten Treppenabsatz zeigte Anvar, daß er die Spitze eines gewaltigen Turms erklommen hatte. Wie der Magusch erwartet hatte, war die Tür vor ihm fest verschlossen. Vor Ungeduld fluchend, ließ er einen Energiestrahl aus dem Stab los und zerschmetterte die Tür mit einem einzigen Schlag. Noch bevor die vielen kleinen Holzstücke zu Boden rieseln konnten, stürmte er in das Zimmer hinein – und begriff zu spät, welchen Fehler er gemacht hatte, als ein Messer durch die Luft auf ihn zuflog. Während kaltes Entsetzen ihn durchzuckte, schien die Zeit für Anvar beinahe stillzustehen. Die Klinge trieb auf ihn zu, unaufhaltsam, wie es schien … Sie fiel klirrend zu Boden, weil er gerade noch rechtzeitig seinen Schild aktivieren konnte. Keuchend blickte Anvar auf und sah den Hohenpriester vor sich, der über einem geschnitzten Sockel kauerte und in einen funkelnden Kristall hineinschrie. »Erzmagusch!

Erzmagusch! – der Gefangene ist entkommen! … Verfluchter Kerl, antworte mir endlich!«

Irgendwie erschien es ihm feige und auch falsch, den Stab zu benutzen, um dieses widerwärtige Geschöpf zu töten. Mit einem stählernen Klirren zog der Magusch sein Schwert. Als Anvar mit langen Schritten auf ihn zukam, kehrte Schwarzkralle seinem wenig hilfreichen Kristall den Rücken, wirbelte herum und rannte auf das Fenster zu, wobei er seine Schwingen bereits halb ausgestreckt hatte. Noch während seine Hände nach dem Fenstervorsprung griffen, schoß Anvars Klinge herab und bohrte sich in seinen Hals. Schwarzkralles Körper brach vor dem Magusch zusammen. Sein Kopf rollte noch ein kleines Stück weiter, und in den vor Angst weit aufgerissenen Augen spiegelte sich der letzte Moment des Entsetzens wider, mit dem der Hohepriester seinem Ende entgegengesehen hatte.