»Aurian, um des Schnitters willen, du mußt pressen!« Eine neue, hohe Woge des Schmerzes packte Aurian, und Nerenis Stimme ging in der Flut unter. Harte Schläge, die in ihrem Gesicht brannten, holten sie in die Wirklichkeit zurück, und sie erhaschte einen Blick auf eine bleiche, verzweifelte Nereni mit vollkommen zerzaustem Haar. »Aurian, du mußt ihm helfen! Hilf ihm, zur Welt zu kommen, sonst werdet ihr beide sterben!«
»Nein!« Aurian wandte ihr Gesicht von Nereni ab. »Nicht dafür. Nicht für Miathan. Nein, das werde ich nicht tun.« Der Verstand der Magusch floh aus ihrem Körper, floh aus dem Meer der Schmerzen, floh durch eine endlose, graue Wüste, um Forral zu suchen. Er hatte ihr immer geholfen und sie getröstet. »Forral!« rief sie verzweifelt. »Forral! …«
Irgendwo in weiter Ferne schien sie das Echo einer Antwort zu hören. Aurian mühte sich verzweifelt, etwas zu verstehen, aber plötzlich stand ihr ein riesiger, schwarzer Schatten im Weg.
»Du darfst ihn hier nicht suchen. Das ist verboten.« Mit einem Frösteln erkannte sie die ausdruckslose, schnarrende Stimme des Todes.
»Laß mich zu ihm«, rief Aurian und kämpfte vergebens gegen die eisige, schwarze Wolke, die sie zurückhielt.
»Aurian, kehr zurück!« Die Stimme des Todes war unerbittlich, aber nicht unfreundlich. »Deine Zeit ist noch nicht gekommen, ebensowenig wie die des Babys, das du trägst. Geh zurück, Tapfere! Geh zurück und bring dein Kind zur Welt.«
Mit diesen Worten stieß er sie mühelos von sich, und Aurian stürzte hinab in endlose Schwärze.
Yazour biß sich auf die Lippen und suchte verzweifelt nach einer Möglichkeit, Schiannath vor den Geflügelten zu retten.
Wie sollte er mit seinen Verwundungen das Dach des Turms erreichen? Dann zerschnitt ein schriller, klagender Schrei vom Dach her die Nacht, und eine dunkle, zusammengekrümmte Gestalt flog durch die Luft und hinunter in den Schnee. Der junge Krieger, dessen Herz für einen Augenblick zu schlagen aufgehört hatte, brach über Iscaldas Hals zusammen, schwach vor Erleichterung, als er die dunklen Federn sah, die den Körper umgaben, der da auf dem Boden aufschlug – und dann versteifte sich Yazour, als das Geheul sich fortsetzte. Das Rudel der Wölfe brach durch das Gehölz hinaus auf die Lichtung, angezogen und zum Wahnsinn getrieben durch den Geruch von Blut.
In seiner Panik galt der erste Gedanke des Kriegers der Stute, aber die halb verhungerten Wölfe hatten für den Augenblick genug. Der Strom zotteliger Leiber teilte sich; einige hielten inne, um über den blutigen Leichnam des Himmelsmannes herzufallen, andere stürzten sich auf den Inhalt des Bündels, das den Geflügelten entglitten war – die Hirschkeulen, die überall im Schnee verstreut lagen. Yazour sah einen dünnen Faden Licht, als die Tür des Turms sich einen Spaltbreit öffnete und dann hastig wieder geschlossen wurde. Der Krieger grinste. Aha, den Wachen stand also nicht der Sinn danach, sich mit einem Wolfsrudel anzulegen? Nun, das brachte ihn auf …
Yazours Grinsen war wie ausgelöscht, als ein Schrei aus dem Turm ertönte. Aurian! Ohne einen weiteren Gedanken an Schiannath stieß Yazour der weißen Stute seine Absätze in die Seiten und zwang sie, aus dem dürren Unterholz heraus über die Lichtung zu galoppieren, wobei er einige der Wölfe, die ihnen im Weg standen, niederritt. Mit dem halb wahnsinnigen Rudel dicht auf den Fersen ritt Yazour das Pferd schnell wie der Wind in die Tür des Turms hinein. Die morschen, alten Balken splitterten unter Iscaldas Gewicht, und sie sprang hinein und setzte leichtfüßig über die zerbrochenen Bretter hinweg, während Yazour sich tief über ihren Hals beugte, damit er sich nicht an dem Türrahmen den Kopf stieß. Hinter ihnen stürmten die Wölfe in den Turm hinein und griffen jeden Menschen an, den sie erblickten. Der Krieger zog sein Schwert, ließ sich von Iscaldas Rücken heruntergleiten und marschierte humpelnd auf die zu Tode erschrockenen Wachen zu, um sich seinen Weg zur Treppe zu bahnen. Die Wölfe jedoch waren mehr als beweglich. Yazour, der um sein Leben kämpfte, sah aus den Augenwinkeln, wie große, graue Gestalten die Treppe hinaufstürzten, und unterdrückte einen Fluch. Die Wölfe würden noch vor ihm bei Aurian sein!
Tiefer und tiefer stürzte Aurian, sie schrie und fiel zurück in das Meer aus Schmerzen. Schließlich brachten laute, verängstigte Schreie von unten sie wieder zu sich, Schreie, die untergingen in dem Fauchen und Heulen von Wölfen. In diesem Augenblick erreichten ihre Qualen den Gipfel – sie ertrank auf dem Kamm der blutroten Welle. Plötzlich zog sich das große Meer zurück und ließ sie allein, völlig erschöpft und nach Luft ringend; das einzige Rot war jetzt das Blut, das hinter ihren geschlossenen Augenlidern pulsierte. Wie aus weiter Ferne vernahm sie Nerenis Stimme: »Ein Junge!« Dann hörte Aurian die entsetzten Schreie der Frau und Miathans Flüche.
Die Magusch riß die Augen auf und sah, wie ein Strom magerer, grauer Gestalten durch die Tür schoß. Die Welt schien für einen Augenblick in einem blendenden Blitz dunkler und heller Mächte auseinanderzufallen. Die ängstlichen Wölfe blieben zögernd in der Tür stehen. Nereni schrie noch einmal auf und ließ das Kind in die Pelze fallen, als hätte es sie verbrannt. Miathan, den die Tiere einen Augenblick lang abgelenkt hatten, drehte sich wieder zu dem unglücklichen Baby um, das in seinen vielen Decken nicht mehr zu erkennen war, und als er den Dolch hob …
Aurian begriff, daß sie endlich frei war. Ohne einen Augenblick zu verlieren, griff sie nach ihren Mächten, die so lange verloren gewesen waren, und rief das Wolfsrudel. Ihre gerade erst von ihren Fesseln befreite Magie flammte in ihr auf wie eine Fontäne herrlichen Feuers. Auf ihre Bitte hin schoß die große, graue Gestalt des vordersten Wolfs nach vorn, stürzte sich auf Harihns besessenen Körper und schleuderte ihn zu Boden. Der Dolch flog ihm in einem hohen, glitzernden Bogen aus der Hand, bevor die Wölfe sich um ihn herum drängten. Aurian hatte noch Zeit für einen letzten Blick auf Harihns Gesicht; sie sah das maßlose Entsetzen in seinen Augen und bemerkte, daß seine Seele wieder seine eigene war. Mit einem wütenden Knurren floh Miathans körperlose Gestalt aus dem Raum, während die Wölfe in einer Fontäne aus Blut Harihns Kehle durchbissen. Von unten konnte Aurian die leiser werdenden Schreie der Wachen hören, als die übrigen Tiere des Wolfsrudels über sie herfielen. Nereni kauerte schluchzend in einer Ecke und verbarg ihr Gesicht.
Aurian zitterte am ganzen Leib, denn das grausame Blutvergießen erschütterte sie bis in die tiefsten Tiefen ihrer Seele. Dann jedoch zog sie sich hoch, getrieben von einer letzten, verzweifelten Notwendigkeit – um herauszufinden, ob Forrals Kind seine furchtbare Geburt überlebt hatte. Sie wagte kaum zu atmen, als sie die Pelze sanft beiseite schob – und was sie erblickte, entriß ihrer Seele einen Schrei qualvollster Verzweiflung.
Aurians Verstand weigerte sich, zu akzeptieren, was sie sah. Das Zimmer verschwamm vor ihren Augen, und sie stürzte in tiefe Dunkelheit, während sie auf ihrem Bett zusammenbrach und ihr Geist von Grauen gepeinigt ins Vergessen floh.
22
Die dunkelste Straße
Er hatte geträumt, die Berge würden lebendig. Anvar stöhnte und öffnete die Augen in einer Dunkelheit, die so vollkommen war, daß er sie nicht einmal mit seiner Maguschsicht durchdringen konnte. Was war nur geschehen? überlegte er verwirrt. In der einen Minute war er auf die Tür des Turms zugestürmt, in der nächsten löste sich alles um ihn herum auf … Die Erinnerung kehrte zurück, und mit einem Stöhnen setzte der Magusch sich plötzlich auf – oder versuchte es jedenfalls. Er konnte sich nicht rühren. Er lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden, auf einer rauhen, unebenen Oberfläche, die sich unter ihm neigte, so daß sein Kopf tiefer lag als seine Füße. Sein linker Arm, der unter seinem Körper eingeklemmt war, war vollkommen taub. Anvar hoffte, daß der Mangel an Gefühl auf den eingeschränkten Blutkreislauf zurückzuführen war. Den rechten Arm hatte er ausgestreckt, und seine Hand umklammerte den Stab der Erde nach wie vor.