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Als das Windauge eintrat, öffnete Shia die schläfrigen Augen und war sofort hellwach. Die Katze war genauso begierig wie Aurian, herauszufinden, wo Anvar steckte. Chiamh klopfte sich ein paar Schneeflocken von seinem Mantel und stellte sich zitternd vor den Ofen, um sich die Hände zu wärmen. Die Magusch reichte ihm einen Becher Wein. »Hast du etwas herausgefunden?« fragte sie drängend.

Das Windauge zuckte mit den Schultern. »Ich habe tatsächlich Neuigkeiten – aber ob sie gut oder schlecht sind, das kann ich nicht sagen. Hast du schon von den Moldan gehört, Lady?«

»Du meinst diese riesigen Erdelementarwesen?« Aurian runzelte die Stirn. »Nur in alten Legenden über die Verheerung. Ich dachte, die alten Magusch hätten sie aus der Welt verbannt, genauso wie die Phaerie. Was haben sie denn mit der Sache zu tun?«

»Mehr als du denkst«, antwortete Chiamh. »Die Moldan wurden nicht aus der Welt gejagt, sondern lediglich gefangengenommen, und sie schlafen jetzt in den Bergen, die ihr irdisches Fleisch sind.« Er legte ihr eine Hand auf den Arm, und seine kurzsichtigen, braunen Augen blinzelten ernst. »Aurian, die Moldan sind wieder erwacht. In meinem eigenen Land habe ich mehrmals mit dem Moldan des Windschleierbergs gesprochen. Und weißt du, was diese Wesen geweckt hat? Die Wiedererschaffung des Erdenstabs.«

Aurian starrte ihn entsetzt an. »Was? Du meinst, diese Kreaturen sind wieder auf freiem Fuß? Und das Ganze ist meine Schuld?«

»Nicht direkt auf freiem Fuß – zumindest nicht in dieser Existenz«, erwiderte Chiamh. »Aber sie sind jetzt wach und sehr mächtig – und nicht alle haben so gute Absichten wie mein Freund Basileus, der Windschleiermoldan.«

Aurian sah sein Zögern und schauderte. Schon jetzt hatte sie das ungute Gefühl zu wissen, wie seine nächsten Worte lauten würden. »Willst du mir damit sagen«, erkundigte sie sich mit leiser Stimme, »daß eins von diesen Elementarwesen hier in Aerillia ist?«

»Jawohl, genau das«, antwortete das Windauge grimmig. Der junge Mann brachte es kaum fertig, ihrem Blick standzuhalten. »Der Stab der Erde muß für ein solches Geschöpf eine unwiderstehliche Versuchung darstellen. Obwohl dieser Berg unverkennbar ein Moldan ist, so weilt sein Bewußtsein doch nicht auf dieser Welt. Ich fürchte, es durchstreift andere Reiche, die weit jenseits dieses irdischen Ortes liegen – und wenn du sagst, dein Freund sei nicht tot, dann fürchte ich, diese Kreatur hat Anvar mitgenommen, um ihm den Stab abzujagen. Und wenn sie Erfolg hat …« Das Windauge schauderte. »Wer weiß, was dann aus unserer armen Welt wird.«

26

Ein neuer Tag bricht an

Aurian lehnte sich gegen die eisige Steinbalustrade der Landeplattform und sah zu, wie der Himmel im Osten langsam hell wurde. In dem matten Zwielicht der Morgendämmerung sah die Stadt Aerillia fremdartig und geheimnisvoll aus mit ihren hohen Strebepfeilern und den sowohl schönen als auch grotesken Schnitzereien, mit den geschwungene Bögen, die den Stein aufs Geratewohl durchbrachen, mit den Türmen und Türmchen und dem absoluten Fehlen von Straßen oder irgendwelchen Gebäuden, die normal und eingeschossig waren und dem menschlichen Auge das Gefühl von Vertrautheit vermittelt hätten.

Die Magusch schob die Kapuze ihres Umhangs zurück und zitterte, während der eisige Morgenwind die Spinnweben der Müdigkeit aus ihrem Kopf vertrieb. Sie versuchte verzweifelt, sich auf eine Möglichkeit zu besinnen, wie sie Anvar rechtzeitig zu Hilfe kommen konnte – wenn es nicht schon zu spät war. Er befand sich bereits jenseits der Grenzen der irdischen Welt, und wenn er dort starb, würde sie es nicht spüren. Unglücklich ließ Aurian den Kopf auf ihre ausgestreckten Arme sinken. »Du verflixter Kerl, Anvar«, seufzte sie. »Warum mußtest du das tun, gerade als ich mir endlich eingestanden habe, daß ich dich liebe?«

Aurian fühlte sich hilflos und niedergeschlagen. Chiamhs Worte hatten sie mit Entsetzen und Angst erfüllt, denn ohne den Stab der Erde konnte sie nicht in das Reich der Hohen Magie eindringen und Anvar zu Hilfe kommen. Zu der furchtbaren Angst, die sie um ihren Geliebten hatte, gesellte sich noch eine andere, noch tiefere Sorge. Wenn sie den Stab der Erde verloren hatte, besaß sie nichts mehr, womit sie kämpfen konnte. Dann gab es nichts mehr, was sie tun konnte, um Miathan aufzuhalten.

Die Magusch blinzelte in das heller werdende Licht und versuchte, sich weiszumachen, daß ihr verschwommener Blick von Müdigkeit und nicht von Tränen herrührte. Plötzlich erstarrte Aurian und blickte mit schmal gewordenen Augen in das verwirrende Morgenlicht. Das war nicht das Licht der Sonne, es war heller, farbenreicher. Gewaltige Strahlen eines juwelenartigen Lichts schossen gen Himmel wie eine Göttin der Morgenröte. Das Licht kam aus der falschen Richtung: nicht von Osten, sondern von Nordosten – von den Ruinen des Tempels!

Mit einem unterdrückten Fluch wirbelte Aurian herum und rief nach den Himmelsleuten, die Elster den flügellosen Besuchern in ihrem luftigen, unzugänglichen Turm zur Seite gestellt hatte. »Beeilt euch!« rief sie, als die Männer mit verschlafenen Augen aus ihrem Zimmer traten. »Holt eure Netze! Ich muß sofort zum Tempel!«

Das Innere des gewaltigen Baums der Cailleach war so dunkel, daß nicht einmal ein nachtsichtiger Magusch es durchdringen konnte. Anvar tastete in Panik nach der Tür, um ein wenig Licht in den Raum hineinzulassen, aber so sehr er auch versuchte, sich durch die undurchdringliche Dunkelheit zu kämpfen, seine Hände trafen doch nur auf leere Luft. Mit einem gemurmelten Fluch ließ der Magusch seine Kräfte in den Stab der Erde fließen. Das Juwel zwischen den Kiefern der Schlange flackerte auf und vertrieb mit seinen smaragdgrünen Blitzen die Dunkelheit. Aber seine Magie war fremd in dieser zeitlosen Welt. Ein anderer Wille setzte sich ihr entgegen: eine Macht, die viel älter war als der Stab und viel, viel stärker. Das große Juwel flackerte, und sein Leuchten schmolz zu einem winzigen, kläglichen, leuchtkäfergroßen Glühen. Bevor Anvar Zeit fand, seine Umgebung näher zu betrachten, schloß sich die Dunkelheit von neuem um ihn herum – bis auf einen bleichen Lichtstreifen, den er nur aus den Augenwinkeln wahrnehmen konnte.

Der Magusch drehte sich stirnrunzelnd um. Was war das? Als sein Blick darauf fiel, leuchtete das Phantom auf und wurde größer, und der schmale Lichtbalken weitete sich wie ein Fenster, das sich langsam öffnet – ein Fenster in eine andere Welt. Anvar versteifte sich. War das wieder einer der Tricks, mit denen die Herrin der Nebel ihn verwirrte? Die dünne Linie des Lichts zitterte, wölbte sich und wurde flüssig, bis sie schließlich eine Folge vertrauter Gestalten annahm: ein Schwan, eine Krone, eine Rose, ein springender Lachs. Und dann endlich – eine Harfe.

Das Licht flackerte zu durchscheinender Helligkeit auf und wurde schließlich zu einem dicken, schillernden Strahl, der sich auf den Magusch richtete wie ein drohender Zeigefinger. Anvar stieß einen wortlosen Entzückensschrei aus. Der unirdische Gesang der Sternenmusik durchflutete seinen Geist, als die Macht der Gramarye durch seinen Körper lief und ihn verzehrte, bis sein jagendes Blut zu geschmolzenem Feuer verwandelt war. Nicht einmal mit dem Stab der Erde in Händen hatte ihn solcher Jubel erfüllt! Ein Gefühl der Rechtmäßigkeit und des Besitzes überflutete ihn aus irgendeiner äußeren Quelle und hallte in seinem Herzen wider, als er die Macht der Harfe annahm und das Artefakt damit für sich beanspruchte.