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Als das Licht jäh erlosch, war es, als zerrisse ein Peitschenschlag seine Seele. Es war, als risse ihm jemand das Herz aus der Brust. Anvar, der von den Nachwirkungen einer solch gewaltigen Macht noch wie betäubt war, kam mit einem Ruck wieder zu Verstand. Die Harfe selbst gehörte ihm immer noch nicht. Obwohl er sie für sich beansprucht hatte, war sie noch nicht sein Besitz. Und wo war während dieser langen Zeit seine Feindin gewesen? Hatte er sie mit dem Stab zerstört? Anvar bezweifelte es. Sie war gewiß ganz in der Nähe, um ihre Kräfte zu sammeln – und wenn sie zurückkehrte, sollte er besser gut vorbereitet sein.

»Ich werde dir die Augen öffnen«, wisperte die Sternenstimme der Harfe. Die unruhigen Nachbilder des Lichtstrahls wichen von Anvars Augen. Blinzelnd sah er eine riesige, kreisförmige Kammer, die sich durch den ganzen Baumstamm zog. Jetzt nahm er die Wände mit anderen Augen wahr. Sie bestanden nicht mehr aus einer silbrigen Verschmelzung von Wald und Stein, sondern waren durchscheinend wie Sonnenlicht. Im Inneren des Stammes sah er den Puls des Baumes, der in feinen, perlmuttartigen Strömen durch Kanäle im Holz pochte. Und dort, direkt ihm gegenüber, erblickte er die silbernen Umrisse einer Harfe. Sie glitzerte nur schwach, als schwimme sie in dem Holz wie ein Lachs unter der Oberfläche eines Flusses. Anvars Herz machte einen Sprung. Er stürzte quer durch den Raum, steckte sich den Stab in den Gürtel und preßte seine Hände gegen die Wand, in der er die Umrisse der Harfe spüren konnte. Zu seiner vollkommenen Verblüffung sanken seine Finger in das Holz ein, als wäre es so durchlässig wie Wasser. Der Gesang der Harfe erreichte in Anvars Gedanken seinen Höhepunkt. »Befrei mich«, sang sie. »Du mußt mich befreien …«

Der Magusch holte tief Luft und drückte seine Finger tief in den Baum hinein, seine Hände schlossen sich um eine ungleichmäßige Gestalt, und seine Finger spürten die glatten, geschwungenen Umrisse von Schnitzereien. Ein jubilierender, glückseliger Sternengesang durchflutete Anvars Gedanken, als er die Harfe aus ihrem Gefängnis befreite und triumphierend hochhielt.

Der Magusch konnte seine Augen nicht von dem Artefakt abwenden. Er war wie gebannt von seiner unglaublichen Schönheit. Die Harfe bestand nicht aus Holz, sondern aus einem seltsamen, durchscheinenden, kristallinen Stoff, der im Feuer seines eigenen, inneren Lichts wie ein Diamant schimmerte. Die Schnitzereien an seinem Rahmen stellten eine endlose Folge geflügelter Gestalten dar: Vögel vieler verschiedener Gattungen, angefangen von einfachen Zaunkönigen und Spatzen bis hin zu den großen, majestätischen Adlern und Schwänen. Als Anvar die Harfe in seinen Händen hin- und herdrehte, sah er Eulen, Fledermäuse, glitzernde Nachtfalter und schillernde Libellen. Seine Finger strichen nicht ohne ein Schaudern über die winzige Gestalt einer geflügelten Frau. Alle Geschöpfe der Luft zierten die Harfe der Winde, deren Rahmen aus flüssigen Silberschwaden bestand, die eine Verkörperung des Windes selbst zu sein schienen. In seinem ganzen Leben hatte Anvar noch nie etwas so Vollkommenes gesehen. Nur eines störte ihn: Der glitzernde Rahmen umspannte nichts als Leere.

»O ihr Götter, wo sind die Saiten?« In seinem Entsetzen bemerkte Anvar nicht, daß er die Worte laut ausgesprochen hatte. Ein gackerndes Lachen erklang hinter ihm, und der Magusch wirbelte erschrocken herum. Dort stand sie, die Herrin der Nebel, ihr Gesicht jung und makellos und ihr Haar weiß wie Frost vor der Schwärze ihres Federumhangs.

»Hast du wirklich geglaubt, es würde so einfach sein, Zauberer«, verhöhnte sie ihn. »Daß du einfach nur in den Baum hineinzugreifen und die Harfe zu nehmen brauchst? Also wirklich, das hätte jeder Idiot gekonnt!«

»Das glaube ich nicht«, erwiderte Anvar kalt. »Nicht ohne die Einwilligung der Harfe.« Er bemerkte ein zustimmendes Glitzern in den Augen der Cailleach.

»Wie ich schon früher festgestellt habe, du bist sehr scharfsichtig, Zauberer«, erwiderte die Herrin der Nebel, »und ein würdiger Gegner. Ich möchte, daß du weißt, daß ich nicht aus freiem Entschluß gegen dich kämpfe – aber ich bin beauftragt, die Harfe zu beschützen, und das muß ich auch tun. Nur einer, der es wirklich wert ist, darf sie gewinnen, denn wenn sie in die irdische Welt zurückkehrt, wird sie dort eine echte Gefahr sein.«

»Na und?« Anvars Antwort war eine Herausforderung.

Die Cailleach lächelte. »Die ersten beiden Tests hast du bestanden. Du hast den Sukkubus überwunden und dann die Zustimmung der Harfe gewonnen, so daß du sie befreien konntest. Glaub mir, Anvar, hätte die Harfe es nicht anders gewollt, wärest du in dem Augenblick, in dem du deine Hand in den Baum geschoben hast, unter qualvollen Schmerzen gestorben. Nun mußt du die Windharfe wiedererschaffen, so wie seinerzeit der Stab der Erde wiedererschaffen wurde. Du hältst den Rahmen in deinen Händen, Zauberer – womit wirst du dieses Artefakt der Hohen Magie nun besaiten?«

Die Harfe war keine Hilfe. In den Tiefen seiner Gedanken sang sie: »Du mußt mich vervollständigen – mach mich wieder ganz!«

»Wie?« fragte Anvar.

Ein schimmerndes Seufzen kam von der Harfe. »Das darf ich nicht sagen.«

Anvar blickte entsetzt zu der Cailleach hinauf. In seinem Herzen wußte er, daß sie die Wahrheit gesagt hatte. Er hatte es die ganze Zeit über gewußt, aber wie sollte er seine Aufgabe lösen und die Harfe gewinnen? Da fiel ihm wieder Aurians Bericht über den Drachen ein, und er fragte: »Darf ich Fragen stellen?«

»Nein«, antwortete die Herrin der Nebel. »Das darfst du nicht.«

»Dann gib mir Zeit zum Nachdenken.« Aber wie sehr er auch in seinem rastlosen Geist nach einer Lösung suchte, Anvar fiel nichts ein. Das Ganze ist einfach lächerlich, dachte er. Als Aurian ihm ihre Erlebnisse in Dhiammara beschrieben hatte, hatte sich die ganze Sache viel leichter angehört.

»Warum gibst du es nicht einfach auf?« unterbrach die Cailleach seinen Gedankengang. »Bleib statt dessen lieber hier und werde mein Geliebter. Ich kann jede Frau sein – alle Frauen …«

Vor Anvars Augen begann sie sich zu verändern; ihre makellosen Züge nahmen eine andere Gestalt an, ihr Haar wechselte die Farbe, ein ums andere Mal. Als er plötzlich Sara erblickte, war es, als hätte man eine alte Wunde aufgerissen. Dann sah er Eliseths kalte und vollkommene Schönheit und schließlich seine Mutter, so wie Ria in ihrer Jugend ausgesehen haben mußte … Die Folge von Frauen ging weiter und weiter, und eine jede war schöner als die vorherige. Zornig wandte Anvar sich ab. »Hör damit auf!« fuhr er die Cailleach an. »So schön du auch sein magst, Herrin, ich habe kein Interesse daran, hier bei dir zu bleiben. Ich habe mein Herz bereits verschenkt – einer anderen.«

»Ach wirklich?« erkundigte die Cailleach sich mit seidenweicher Stimme. »Nach dem, was ich in deinen Gedanken gelesen habe, als du dich dem Zeitlosen See genähert hast, ist das Herz deiner Liebsten ebenfalls vergeben – und zwar nicht an dich.«

»Das ist eine Lüge!« rief Anvar. »Sie braucht nur Zeit, das ist alles!«

»Wieviel Zeit? Einen Monat? Ein Jahr? Für immer? Deine Lady ist unlenkbar, Anvar, und ihre Trauer hat sie fast um den Verstand gebracht. Kannst du sicher sein, daß sie das Andenken ihres toten Liebsten betrügen wird? Und das ausgerechnet mit demjenigen, der indirekt für seinen Tod verantwortlich war?« Die Macht der Stimme, mit der die Cailleach nun sprach, hatte etwas zutiefst Hinterhältiges. Ihre Mondsteinaugen hielten den Blick des Magusch fest, hypnotisch und glitzernd wie Schlangenaugen. Anvar wollte protestieren – wollte leugnen, was sie sagte, aber er fand keine Worte, denn sie hatte mit grausamer Zielsicherheit jenen dunklen Punkt des Zweifels im tiefsten Kern seiner Seele berührt.

»Warum willst du das Risiko eingehen? Warum, wenn ich doch alles sein kann, was Aurian ist – und mehr!« Als die Cailleach wieder zu sprechen begann, veränderte sie sich von neuem – und der Magusch sah sich plötzlich seiner Geliebten gegenüber. Aurian, so wie sie vor langer Zeit in Nexis gewesen war, bevor die Entbehrungen sie hart gemacht hatten und Trauer und Rachsucht ihrem Blick etwas Stählernes gegeben hatten. Statt dessen erlebte Anvar nun atemlos, wie sie ihn ansah – ihn – mit einem Ausdruck in den Augen, der bisher immer für Forral reserviert gewesen war.