Die Xandim waren niemals eine Rasse gewesen, die sich um Dächer oder Mauern geschert hatte. Es war wirklich ein Glück, dachte Chiamh, daß ein Volk, dem es so sehr an allen Fähigkeiten gebrach, die zum Hausbau notwendig waren, eine vorgefertigte Festung gefunden hatte. Niemand wußte, wer sie erbaut hatte; die Großmutter des Windauges schrieb es der alten Rasse der Mächtigen von jenseits des Meeres zu. Chiamh bezweifelte das, obwohl die Schöpfer dieser Festung über unglaubliche Macht verfügt haben mußten, denn sie hatte die Unbilden der Zeit überlebt – und zwar zu Recht. Es gehörte mehr dazu als das Vorüberstreichen der Jahrhunderte, um ein so solides Bauwerk zu zerstören.
Geborgen in einer tiefen Einbuchtung in den Felsen lag die Fest der Xandim, ein massives Bollwerk, das die hohen, steinernen Wände des Windschleierbergs noch überragte. Das Gebäude war ein ausgehöhltes Quadrat, in dessen Mitte sich ein großer Hof befand. Die Hauptwohnbereiche grenzten an die Felswände. Obwohl die Feste beeindruckend geräumig schien, war ihre wirklich Größe von außen nicht zu ermessen, denn das Gebäude ragte tief in die Felsen hinein, wo meilenlange Korridore und eine Vielzahl von Gemächern aus dem Berg herausgehauen worden waren. In Notzeiten war die Festung groß genug, um die ganze Xandimrasse aufzunehmen – aber das war nicht ihre herausragendste Eigenschaft. Wirklich einmalig war, daß das ganze Gebäude – innen wie außen – aus einem einzigen Stein bestand!
Der grüne Abhang unter dem Bergfried war mit anderen kleineren Gebäuden übersät. Jetzt, da ihre Umrisse unter üppigen Gräsern, weichen Moosen und gold- und silberfarbenen Flechten verborgen waren, sahen sie von außen wie roh behauene Steine aus, die von den Felswänden herabgestürzt waren. Ihr Aussehen verriet jedoch auch ihre wahre Natur. Chiamhs Nachforschungen hatten ergeben, daß diese Gebilde keineswegs Felsbrocken waren. Sie breiteten sich unterhalb der Erde weiter aus und schienen – wie die Festung – Auswüchse des Muttergesteins des Berges zu sein. Jedes dieser Gebilde hatte eine kleine, quadratische Tür und ein Loch in seinem Dach, das Licht hereinließ und dem Rauch aus dem Herd die Möglichkeit gab zu entweichen. Noch erstaunlicher jedoch war das Innere dieser Gebilde, denn die Mauern und der Fußboden waren angehoben und ausgefurcht worden, um Betten, Regale und Bänke zu formen. Wie die Festung, so war auch ihr Ursprung ein Rätsel, aber die Xandim hatten diese Gebilde als Teil der Landschaft akzeptiert. Wenn das Wetter nicht gerade extrem unfreundlich war, kümmerten sie sich kaum um diese vorgefertigten Heime.
Die Xandim waren ein zähes, bewegliches Volk, das meist draußen lebte und die Freiheit vorübergehender Zufluchtsorte in den stürmischen Vorgebirgen oder den offenen Ebenen mehr schätzte als fertige Niederlassungen und Wände aus Stein. Als Menschen jagten, fischten, sammelten und handelten sie – und in ihrer Pferdegestalt grasten sie die weiten Ebenen ab, wo ihr Futter im Überfluß wuchs. Sie hatten eine einfache, geschriebene Zeichensprache, kümmerten sich jedoch selten um solche Äußerlichkeiten. Statt dessen erzählten sie einander Geschichten, je unglaubwürdiger um so besser, und sangen miteinander ihre Lieder. Ihre Geschichte wurde von Mund zu Mund weitergegeben, ein Umstand, der Chiamh überaus mißfiel. Er war sicher, daß vieles von ihrer Geschichte verlorengegangen und die Überlieferung der Reste zum größten Teil durcheinandergeraten war.
Das Windauge kam durchnäßt, zerschunden und atemlos vor dem gewaltigen Torbogen der Festung an. Das Gebäude war ihm unheimlich, als würde er von unsichtbaren Augen unter seinen Dachfirsten beobachtet. Nervös blickte er an dem hoch aufragenden Bauwerk empor. Die ungewöhnliche Silberäderung in dem groben, braunen Stein glitzerte sanft in dem Nachglühen der Abenddämmerung, und in dem trügerischen Geisterlicht sahen die Türme, Fenster, Balkone und Stützpfeiler des Gebäudes in Chiamhs kurzsichtigen Augen wie die ehrwürdigen Züge eines zerfurchten, alten Gesichtes aus. Zum ersten Mal fragte er sich, warum er nie auf den Gedanken gekommen war, sich diese Feste einmal mit seiner Andersicht anzuschauen. Nur die Göttin wußte, was eine solche Vision offenbaren mochte – aber im Augenblick hatte er für solch frivole Experimente keine Zeit.
Als erstes mußte er herausfinden, was mit den fremdländischen Gefangenen geschehen war. Waren sie schon angekommen? Seine Visionen waren korrekt, was die Zusammenhänge betraf, aber sie konnten verwirrend und unsicher sein, wenn es um die Zeit ging. Und obwohl er das Windauge war, genoß Chiamh doch nicht so großes Ansehen beim Rudelfürsten, daß es ihm erlaubt gewesen wäre, die Kerker zu betreten. Die Rettung der Fremden mußte warten, bis ihre Verhandlung beendet war, bis er sie erreichen konnte. Außerdem wollte das Windauge mehr über sie wissen, bevor er sich weiter in die Sache verstrickte. Glücklicherweise gab es eine Möglichkeit, herauszufinden, was er wissen mußte – falls die Fremden bereits hier waren.
Es war gerade Zeit für den Wachwechsel – eine vollkommen zwanglose Angelegenheit, denn die unabhängigen Xandim hatten nichts übrig für Formalitäten und Bevormundung. Chiamh seufzte. Daß er ausgerechnet jetzt ankommen mußte, wo er es mit doppelt so vielen Wachen zu tun haben würde wie sonst! Als er sich den Wachen näherte, erkannte Chiamh den ranghöchsten Offizier. Es war Galdrus, ein Muskelpaket ohne Verstand, dessen Kopf dicker war als der Stein der Festung, und Chiamhs Mut sank. Da es Galdrus sowohl an Intelligenz als auch an Vorstellungskraft mangelte, hatte er großen Spaß daran, sich über das kurzsichtige Windauge lustig zu machen. Aber die Wachen hatten Chiamh bereits gesehen, und er hatte keine Chance mehr, seinen Weg unbeobachtet fortzusetzen. Also tat er sein Bestes, um sich in die Würde seines Amtes zu hüllen, straffte seine Schultern und ging auf die Gruppe der Krieger zu, die plaudernd am Tor stand.
Wie Chiamh erwartet hatte, begannen die Männer, ihn zu verhöhnen, noch bevor er die oberste Treppenstufe erreicht hatte.
»Was hat dich denn aus deinem Loch gescheucht, kleiner Maulwurf?« spottete Galdrus, was seinen Kameraden ein Lachen entlockte.
Chiamh biß die Zähne zusammen. »Laß mich durch«, sagte er leise. »Ich habe hier etwas Dringendes zu erledigen.«
»Oh! Das Windauge hat hier etwas Dringendes zu erledigen! Was ist es denn, Chiamh – bist du vielleicht gekommen, um dir saubere Wäsche zu holen?«
Chiamh ignorierte das Kichern der Wachen, die sich über sein schmutziges, zerlumptes Aussehen lustig machten. Die Göttin allein wußte, wie er nach seinem überstürzten, unachtsamen Lauf den Berg hinunter aussah. Das Windauge verfluchte die Röte, die seine Wangen erhitzte, hob das Kinn und stolzierte entschlossen hinein – und schlug auf der Schwelle der Länge nach hin, den Schaft eines Speers zwischen den Beinen. »Huch – tut mir leid, Großer«, kicherte Galdrus. Seine Augen waren weit aufgerissen in gespieltem Entsetzen. »Bitte verwandle mich jetzt nicht in eine schreckliche Bestie!«
Das Windauge raffte sich mühsam auf und rieb sich unter dem hämischen Gelächter der Wachen das Knie, das er sich an der steinernen Treppenstufe aufgeschlagen hatte. Chiamhs Gesicht brannte. Das einzige, woran er denken konnte, war Flucht, bevor seine Peiniger ihn noch weiter quälen konnten.
»Willst du ihnen das etwa durchgehen lassen?«
Chiamh wirbelte herum und suchte die Stimme, die ihm diese Bemerkung ins Ohr geflüstert hatte. Die Wachen krümmten sich vor Lachen – von denen konnte es doch kaum einer gewesen sein? Die Stimme hatte viel tiefer geklungen – irgendwie älter als die hämischen Stimmen dieser Männer.