Als er geendet hatte, ergriff Sangra das Wort. »Jetzt haben wir dir deine Fragen beantwortet, nun beantworte du unsere. Wer bist du? Wie kommt es, daß du durch Wände gehen kannst? Warum …« Aber der Geist war verschwunden.
Während Chiamh sich zurück zu seinen Gemächern tastete und den Strömungen frischerer Luft durch die Spalten im Stein folgte, überschlugen sich die Gedanken in seinem Kopf. Obwohl er keinen Hinweis darauf erhalten hatte, welche Rolle Schiannath in dieser Angelegenheit spielte, hatte er doch das meiste von dem, was er wissen wollte, erfahren. Die dunklen Mächte und die hellen – endlich war ihm alles klar, und er wußte jetzt mehr als je zuvor, daß er diese Fremden vor seinem eigenen Volk retten mußte. Aber wie?
Das Windauge, das ganz in seinen Gedanken verloren war, konzentrierte sich nicht auf das, was es tat. Verstrickt in eine Reihe von Plänen, die immer komplizierter und undurchführbarer wurden, brauchte er eine ganze Zeit, um zu begreifen, daß er schon lange in seinen Gemächern hätte ankommen müssen. Ruckartig wachte Chiamh aus seinen Tagträumen auf, um herauszufinden, daß er sich in den pfad- und weglosen Labyrinthen der Felsspalten im Körper der Festung verirrt hatte. Er hatte keine Ahnung, wo er war – und keine Möglichkeit, in seinen Körper zurückzukehren.
4
Neuigkeiten aus Wyvernesse
Der Erzmagusch war wieder einmal fortgegangen, um seine südlichen Marionetten zu überwachen, und sein Aufbruch bedeutete wie jedesmal für Eliseth eine gewaltige Erleichterung. Obwohl nur Miathans Geist fort war, verbesserte sich die Atmosphäre in der Akademie durch das Fehlen seiner brütenden Gedanken sofort beträchtlich, und die Wettermagusch konnte sich endlich entspannen. In der Sicherheit ihrer Gemächer betastete sie mit ängstlichen Fingern ihr Gesicht. Ihre Haut war jetzt wieder so glatt, straff und seidig dort, wo sie noch vor so kurzer Zeit rauh und eingefallen war. Plötzlich wünschte sie, sie hätte nicht alle Spiegel zerschlagen. Was für eine Freude wäre es gewesen, wieder sich selbst zu sehen und nicht dieses gräßliche, alte Weib. Dank sei den Göttern – aber auf der anderen Seite, warum sollte sie ihnen danken? Eliseth hatte sich durch ihre eigene Klugheit gerettet.
Nichtsdestoweniger machte die Magusch sich schleunigst daran, ihr Wort zu halten und den Winter wiederherzustellen – eine einfache Angelegenheit, obwohl ihr Wetterdom in dem Kampf mit Aurian durch den Rückstoß magischer Kräfte zerstört worden war. Ihr Winterzauber hatte jedoch nicht viel Zeit gehabt, um sich zu verbrauchen, und es kostete sie nur geringe Mühe, ihn wieder aufzubauen. Dazu stieg sie auf den offenen Dachtempel auf dem Maguschturm, von dem Bragars Asche mittlerweile entfernt worden war. Als sie ihr Werk vollendet hatte, ging Eliseth langsam wieder nach unten, wobei sie die weiche Biegsamkeit ihres wieder jugendlichen Körpers genoß und den Frieden in dem stillen Turm auskostete. Als sie an Miathans Tür vorüberkam, blieb sie stehen. Hinter dieser Tür mußte sein Körper liegen, unbewacht und hilflos, während sein Geist weit fort im Süden war, um seine Pläne für Aurians Gefangennahme zu überwachen.
Eliseth blieb vor der Tür stehen und betrachtete eingehend das Honigwabenmuster in der Maserung des Holzes. Die Versuchung war überwältigend. Es wäre so leicht … Als sie ihre Hand auf den Türgriff legte, streifte sie ein Schwall prickelnder Kälte. Aus den Augenwinkeln sah Eliseth die dunstig schimmernde Illusion eines Abwehrzaubers. Fluchend riß sie ihre Hand zurück und rieb sich die Innenfläche an ihren Röcken ab. Ich hätte es wissen müssen, dachte sie. Der alte Wolf würde mir nie so weit trauen – weder mir noch irgend jemandem sonst –, daß er seinen Körper in seiner Abwesenheit unbewacht ließe. Sie fragte sich, welchen Zauber Miathan über die Tür gelegt hatte, welches Schicksal sie erwartet hätte, wäre sie dumm oder unaufmerksam genug gewesen, den Riegel umzulegen. Es wäre sicher etwas Unaussprechliches gewesen, da war Eliseth sich ganz sicher. Jetzt, da Miathan über die Macht des Kessels verfügte …
Schaudernd ging die Wettermagusch an Miathans Tür vorbei und setzte hastig ihren Weg die Treppe hinab fort. Die nächsten Räume, an denen sie vorbeikam, gehörten Aurian. Nach einem Augenblick des Zögerns drückte Eliseth die schwere Tür auf. Die Zimmer waren aufgeräumt – so aufgeräumt, wie Anvar sie in jener Nacht zurückgelassen hatte, als er mit seiner Herrin aus Nexis geflohen war. Eliseth rümpfte die Nase über den modrigen Geruch, der in diesen Zimmern herrschte. Die feuchte Luft war schal und abgestanden, der lange nicht mehr benutzte Kamin kalt und grau und mit einem dicken Aschenbelag überzogen. Spinnweben und Staub hüllten die Möbel wie ein geisterhafter Schleier ein, und an den vermodernden Kissen hatten Mäuse genagt.
Die Wettermagusch lächelte. Wenn der Erzmagusch seinen Willen durchsetzte, würde Aurian schon bald einen ähnlichen Zustand in ihrer Seele erleben. Wie gut, daß ich dich nicht getötet habe, Aurian, dachte Eliseth. Miathan kann dich viel mehr leiden lassen, als ich es vermocht hätte! Mit diesem Gedanken drehte sie sich auf dem Absatz um, kehrte der düsteren Kammer, ohne sich noch einmal umzusehen, den Rücken und machte sich weiter auf den Weg in ihre eigenen Räume, ein Stockwerk weiter unten.
Während die Magusch sich weiter oben zu schaffen gemacht hatte, hatte einer der wenigen ihnen noch verbliebenen Dienstboten – ein zerlumptes Balg mit spitzem Gesicht – ihre Räume saubergemacht. Als Eliseth eintraf, warf das Mädchen ihr hinter einem Vorhang zerzauster, brauner Locken einen verängstigten Blick zu und machte dann, seinen Putzlumpen mit schmutzigen Fingern fest umklammernd, einen flüchtigen Knicks. »Ich – ich habe dir ein Bad eingelassen, Lady«, wisperte sie ängstlich. »Ich hoffe, das war richtig.«
Das Küchenmädchen hatte sich selbst übertroffen bei ihren Bemühungen, Eliseths Gemach wieder in Ordnung zu bringen. Die zerbrochenen Spiegel waren fort, und kein einziger Glassplitter war auf dem glänzenden Boden zurückgeblieben. Die Möbel waren abgestaubt und die Weinkrüge und Kelche weggeräumt. Die Flecken an der Wand, dort, wo ihr Weinglas aufgeprallt war, waren vollkommen verschwunden, und in dem sauber ausgefegten Kamin loderte ein helles Feuer. Eliseth nickte zustimmend. Endlich! Wenigstens eine von diesen Schlampen weiß, wie man arbeitet. Sie entließ das Mädchen und schickte sie mit dem Befehl, daß man ihr, der Magusch, eine Mahlzeit zubereiten solle, in die Küche zurück.
Als Eliseth ihr Badezimmer betrat, war sie noch dankbarer. In dem quadratischen Eisenofen brannte ein Feuer, die Badewanne war voll dampfendem Wasser, und Seife sowie duftende Öle lagen für sie bereit. Frisch gewaschene Handtücher hingen in der Nähe des glühenden Ofens, damit sie ein wenig warm waren, wenn sie gebraucht wurden. Die Magusch war entzückt. War für einen Unterschied solche Annehmlichkeiten doch machten, dachte sie. Ihre frühere Magd war von einem der Todesgeister ermordet worden, in jener Nacht, als Miathans abscheuliche Kreaturen in Nexis Amok gelaufen waren, und seitdem waren sie in der Akademie so knapp mit Hilfskräften, daß Eliseth noch keine neue Magd für sich hatte finden können. Aber dieses Mädchen war wirklich nicht schlecht … Eliseth lächelte. Vielleicht wendet sich das Blatt für mich endlich wieder, dachte sie. Sie zog die Robe aus, die sie als altes Weib getragen hatte, und ihr Gesicht verdüsterte sich bei der Erinnerung daran zu einem finsteren Stirnrunzeln. Mit einem gemurmelten Fluch ballte sie das Kleid zusammen und warf es in den Ofen, wo es sogleich Feuer fing und verbrannte.