»Sie hat diesen Trick schon einmal bei Tarnal versucht, bevor du zu uns gekommen bist.« Remana kam dem jungen Mann zu Hilfe. »Ehrlich, Vannor. Wir hätten nie gedacht, daß sie es wieder tun würde. Aber sie hatte mit Yanis gestritten, weil sie dachte, daß er mehr tun sollte, um dir zu helfen, und ich glaube, weil er sie nicht mitnehmen wollte, wenn er nach Süden fuhr, um dort Handel zu treiben. Er ist noch am selben Tag in See gestochen und hat uns nicht erzählt, was zwischen ihnen vorgefallen war, und Zanna hat auch nichts gesagt, obwohl ich den Eindruck hatte, daß sie ziemlich still war. In derselben Nacht ist sie dann verschwunden.« Remana biß sich auf die Lippen. »Wenn du Tarnal Vorwürfe machen willst, kannst du mir auch gleich welche machen. Ich war diejenige, die Zanna beigebracht hat, wie man segelt und wie man durch die schmale Durchfahrt vor der Höhle kommt. Yanis ist immer noch in den südlichen Gewässern – er weiß nicht einmal etwas davon. Tarnal und ich dachten, es sei das beste, herzukommen und es dir sofort zu erzählen. Bei den Göttern, Vannor, es tut mir leid. Dulsina, du hast dich geirrt, als du mir vertraut hast.« Tränen standen in Remanas Augen. »Sie hat einen Brief hinterlassen, in dem sie erklärt, was geschehen ist und was sie vorhat. Sie ist nach Nexis gegangen.«
Vannor hatte während der ganzen Zeit ein versteinertes Schweigen bewahrt. Tarnal wünschte, er würde irgend etwas tun, würde vielleicht mit diesen fest geballten Fäusten auf ihn einschlagen – alles wäre besser, als ihn einfach nur mit diesem haßerfüllten Blick auf dem Gesicht dastehen zu sehen. Nun trat Dulsina einen Schritt vor und griff nach dem Arm des Kaufmanns. »Vannor, mach den beiden keine zu großen Vorwürfe. Du weißt, wie Zanna ist – sie schlägt ganz nach dir. Wenn sie sich erst einmal etwas in den Kopf gesetzt hat, kann sie niemand mehr aufhalten.«
»Und damit ist die Sache in Ordnung, wie?« knurrte Vannor, der sich nun zu Dulsina umdrehte. »Sie hätten eben besser auf sie aufpassen müssen. Sie …«
»Das haben sie aber nicht, wie es aussieht.« Dulsinas nüchterner Tonfall brachte den Kaufmann zum Schweigen. »Also«, fuhr sie fort, »die Frage ist jetzt, was sollen wir wegen Zanna unternehmen? Indem du Tarnal und Remana beschimpfst, holst du sie nicht zurück.«
»Du hast recht.« Vannor schien erleichtert, endlich irgend etwas tun zu können. »Hagorn, wir müssen unsere Pläne ändern. Du gehst nach wie vor nach Nexis – aber ich komme mit dir.«
»Vannor, das darfst du nicht!« ächzte Dulsina. »Es ist ein Kopfgeld auf dich ausgesetzt. Man wird dich erkennen. Und was ist dann mit den Rebellen? Du bist ihr Anführer …«
»Dann sollten sie sich, verdammt noch mal, besser einen anderen Führer suchen!« Der Ausdruck auf Vannors Gesicht duldete keine Einwände mehr. »Dulsina, pack mir ein Bündel zusammen. Fional, du gehst wie besprochen nach Wyvernesse zurück. Nimm dir ein paar Ponys von diesen beiden Idioten hier – das ist das wenigste, was sie zur Wiedergutmachung tun können.« Er streifte Tarnal und Remana mit einem verächtlichen Blick. »Und bring meinem Sohn mit, wenn du wiederkommst. Ich möchte, daß er hier bei Dulsina in Sicherheit ist.«
»Aber …«, stammelte Fional.
»Streite nicht mit mir!« brüllte Vannor. »Dulsina, ist mein Bündel endlich fertig? Worauf wartest du noch, Frau?«
Als Dulsina, die es ausnahmsweise einmal nicht wagte, dem Kaufmann zu widersprechen, herbeigerannt kam, schluckte Tarnal schwer und ging zu Vannor hinüber. »Ich möchte mit dir kommen«, sagte er fest.
Vannor musterte ihn mit einem finsteren Blick. »Mit mir kommen? Nach dem, was du getan hast? Du hast wirklich Nerven, Junge! Geh mir aus den Augen. Ich will dich und deine Nachtfahrerfreunde niemals wiedersehen.«
Als die Reisenden sich von ihren Kameraden verabschiedet und die Lichtung über den Pfad verlassen hatten, der sich vor ihnen auftat, schloß D’arvan die Augen, denn er konnte nicht zusehen, wie sie die Zufluchtsstätte verließen, die er für sie geschaffen hatte, und wieder hinausgingen in ein Land, in dem überall Gefahr lauerte. Er hätte sie aufhalten können, das wußte er. Für den Sohn des Waldfürsten wäre es ein leichtes gewesen, die Pfade zwischen den Bäumen umzulenken und die Wanderer nicht aus dem Wald herauszulassen, sondern sie in einem Kreis zurück in die Sicherheit zu führen, die sie hinter sich gelassen hatten. Aber es wäre falsch von ihm gewesen, das zu tun. Sie mußten ihre Rollen in dem Kampf gegen Miathan spielen, so wie er es mußte, und er konnte nichts für sie tun, als um ihre sichere Rückkehr zu beten.
Hagorn wischte sich seine taube, tropfende Nase am Ärmel ab. »Bei Chathak, ich hatte vergessen, wie kalt es hier draußen sein kann«, murmelte er Fional zu, der sich von ihnen trennen würde, sobald sie die Bäume hinter sich gelassen hatten, um sich auf den Weg nach Wyvernesse zu machen.
Remana und Tarnal würden ihm folgen, sobald sie sich genügend ausgeruht hatten, um die anstrengende Reise anzutreten, aber Vannor hatte dem Bogenschützen nicht gestattet, auf sie zu warten. Einmal mehr wünschte sich Hagorn, die Rebellen hätten Pferde an diesen verlassenen Ort mitbringen können. Aber in diesen Tagen des Hungers waren Pferde ein seltener Luxus, denn die meisten waren schon vor langer Zeit verspeist worden.
Vor den drei Männern erstreckte sich die endlose Trostlosigkeit der Moore; an manchen Stellen ragte der schwarze Fels ihrer windgepeitschten Knochen durch einen zerfetzten Mantel aus verkümmertem Farn, und struppige Heide wuchs auf nachtgrauer Erde, die unter einer Haut aus knisterndem Frost hart war und spröde. Hinter den Wanderern schlossen sich die Bäume, die das jähe Ende des Tals bildeten, fest und eng wieder zusammen, als kauerten sie sich aneinander, um sich gegenseitig Wärme zu spenden. Gequält von dem bitteren, heulenden Wind, streckten sich ihre kahlen, verzerrten Äste klauengleich dem bewölkten Himmel entgegen.
Der Bogenschütze nickte, und sein für gewöhnlich lächelnder Mund verzog sich zu einer Grimasse. »Die Kälte war leicht zu vergessen da drin.« Stirnrunzelnd drehte er sich zu dem älteren Mann um. Es hatte keinen Sinn, mit Vannor zu sprechen, der seit ihrem Aufbruch aus dem Lager ein grimmiges Schweigen bewahrt hatte. Die anderen wagten es nicht, in seiner Gegenwart über ihre Sorge um Zanna zu sprechen, und Fional zermarterte sich das Gehirn auf der Suche nach einem anderen Thema. »Hagorn, was glaubst du, was uns in dem Tal beschützt hat? Glaubst du, es war Aurians Mutter? Und wenn ja, warum hat sie sich nicht gezeigt?«
Der alte Soldat schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Ahnung, Junge – obwohl ich mich daran erinnere, daß Aurian gesagt hat, ihre Mutter wäre eine ausgesprochene Einzelgängerin. Aber nach allem, was geschehen ist, würde man doch denken, daß sie sich uns gezeigt hätte – falls es wirklich die Lady war, die uns da drin geholfen hat.«
»Aber wer hätte es denn sonst sein können?«
»Das wissen nur die Götter … Sollte nicht auch dein Maguschfreund D’arvan zusammen mit der armen Maja hierherkommen? Ich frage mich seit einiger Zeit, was wohl aus ihnen geworden sein mag?«
»D’arvan und Maja wären bestimmt nicht in ihrem Versteck geblieben, wenn sie wußten, daß wir da waren«, protestierte Fional entrüstet.
Hagorn seufzte. »Vielleicht hast du recht. Aber in diesem Tal gehen seltsame Dinge vor sich, Junge. Wenn man dort ist, fällt es einem leicht, nicht so viel darüber nachzudenken. Aber wenn man wieder herauskommt und zurückdenkt …« Er drehte sich zwinkernd zu dem jüngeren Mann um. »Bist du nicht auch ein wenig neugierig? Willst du nicht herausfinden, was da vor sich geht und was mit D’arvan und Maja geschehen ist? Glaubst du, Parric hätte sich, wenn er dort gewesen wäre, damit zufriedengegeben, rumzusitzen und nicht herauszufinden, was los ist? Glaubst du, Forral hätte das getan?«
Fional grinste. »Aber natürlich nicht. Da hast du ganz recht. Schließlich ist es unsere Pflicht, herauszufinden, was aus unseren verschwundenen Freunden geworden ist.«