»Du hast da ein paar gute Ideen«, sagte Aurian zu Eliizar. »Obwohl ich die Verzögerung hasse, müssen wir Vorbereitungen treffen, bevor wir ins Gebirge aufbrechen. Zum einen müssen die Pferde sich ausruhen – wir haben nicht mehr genug Reittiere, da Anvar und ich die unseren in dem Sandsturm verloren haben – und außerdem müssen wir eine Möglichkeit finden, wärmere Kleider anzufertigen, müssen ein Lager mit Nahrungsmitteln anlegen …«
»Aber da besteht doch keine Eile, Aurian«, unterbrach sie Nereni. »Wie können wir denn weiterziehen, bevor dein Kind geboren ist?«
»Was?« Aurian starrte sie entsetzt an. Anvar, der sie beobachtete, hielt den Atem an.
»Hast du das denn nicht bedacht?« Nereni wirkte schockiert. »Aurian, wie kannst du in deinem Zustand gleich wieder aufbrechen? Möchtest du etwa, daß das arme, kleine Ding mitten in einer Schneewehe zur Welt kommt?« Sie senkte ihre Stimme zu einem einschmeichelnden Flüstern. »Es sind jetzt keine drei Monate mehr – die kannst du doch sicher abwarten, um des Kindes willen?«
Aurian wurde sehr bleich, und Anvar, der sie wie immer beobachtete, spürte, wie ihr sein Herz entgegenflog. Nerenis Worte über das Risiko für ihr Kind hatten sie tief getroffen. Bei den Göttern, gerade erst hatten sie die Wüste überlebt, und jetzt das hier. Müssen wir denn immer in solcher Eile sein? dachte er. Er verstand Aurians dringendes Bedürfnis, den Kampf mit dem Erzmagusch aufzunehmen, aber das Kind war ihre letzte Verbindung zu Forral. Anvar sah sich in dem vom Feuer erleuchteten Kreis um. Yazour und Eliizar nickten zu Nerenis Worten. Nur Bohan, der wie immer auf der Seite seiner geliebten Aurian stand, sah unglücklich und zerrissen aus. Nur Bohan – und er selbst, Anvar. Aurian richtete, als hätte sie seine Gedanken gelesen, einen gequälten Blick auf ihn. »Miathan weiß, wo wir sind«, sagte sie. Er hörte die Unsicherheit aus ihrer Stimme heraus. »Er könnte uns hier angreifen.«
»Das könnte er tatsächlich.« Bei der Erinnerung an ihre letzte Begegnung mit dem Erzmagusch fiel es Anvar schwer, seine Stimme unter Kontrolle zu halten. »Aber wir sind bisher zurechtgekommen, und es ist eine Frage des Risikos. Wenn du jetzt in die Berge gehst, wirst du mit Sicherheit das Kind gefährden.« Er biß sich auf die Lippe und wandte, mit seinem eigenen Gewissen ringend, den Blick ab. »Ich würde dir raten, abzuwarten, aber mit jedem Tag, der vergeht, wächst Miathans Vorteil. Ich werde dir helfen, wo ich nur kann, Aurian, aber am Ende ist es deine Entscheidung. Du weißt, ich werde dir immer helfen, ganz gleich, wie du dich entscheidest.«
Von seinem Aussichtspunkt jenseits des Brunnens der Seelen knirschte Forral frustriert mit den Zähnen. Dieser törichte Junge ging die Sache vollkommen falsch an. »Warum hilfst du ihr nicht?« murmelte er. »Wenn ich nur dort wäre, dann hätte ich …« Forral zögerte. Was genau hätte er denn zu Aurian gesagt? Das arme Mädchen – wie zerrissen sie sein mußte zwischen der Notwendigkeit, ihr Kind zu beschützen, und dem Drang, nach Norden zu eilen, um Miathan Einhalt zu gebieten.
Als Soldat wußte Forral alles über Pflicht. Aber etwas, womit er nicht gerechnet hatte, war die wilde, beschützende Liebe eines Vaters zu seinem Kind – selbst wenn es noch nicht einmal geboren war. Plötzlich war der Schwertkämpfer geradezu beschämend froh darüber, daß die Entscheidung nicht in seinen Händen lag. Aber wozu würde Aurian sich entscheiden? Er spähte noch einmal in den Brunnen und suchte den Wald ängstlich nach einem Bild seiner Liebsten ab.
Aurian zögerte. Sie sah unglücklich und unentschlossen aus. Rabe, die spürte, daß ihr der Augenblick zu entschlüpfen drohte, wußte, daß sie schnell handeln mußte. »Aurian.« Sie beugte sich vor und berührte die Magusch am Ärmel, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen. »Es wäre sicherer, so bald wie möglich aufzubrechen.«
»Was meinst du damit?« Aurian fuhr stirnrunzelnd herum. Rabe holte tief Luft. Sie war mit Harihn übereingekommen, diese Information nur dann zu benutzen, wenn alles andere scheiterte, aber anscheinend hatte sie keine andere Wahl.
»Ich habe heute während der Jagd etwas entdeckt«, sagte sie. »Harihn und seine Leute haben ebenfalls ihr Lager hier aufgeschlagen – am Nordrand des Waldes.«
»Was?« rief Aurian entsetzt. »Harihn ist hier? Wie kannst du dir da so sicher sein? Du hast ihn doch nie gesehen.«
»Es muß der Prinz sein«, erwiderte das geflügelte Mädchen hastig. »Sie tragen ähnliche Kleider wie ihr – und wer könnte es sonst sein?«
Anvar fluchte. »Rabe, du Idiotin. Warum, verdammt noch mal, hast du vorher nichts davon gesagt? Wenn Harihn uns findet …«
»Aber das wird er vielleicht nicht«, warf Nereni hoffnungsvoll ein.
Anvar zog eine Grimasse. »Darauf würde ich mich nicht verlassen. Bei den Göttern, was für ein Durcheinander! Aurian und ihr Kind werden in den Bergen in Gefahr sein, aber wenn wir hierbleiben, steht unser aller Leben auf dem Spiel.«
Das war Rabes großer Augenblick. »Anvar«, sagte sie einschmeichelnd, »es ist vielleicht nicht so schlimm, wie du denkst. In den Bergen gibt es einen Ort, einen Wachturm, den mein Volk vor langer Zeit gebaut hat und der die weit entlegenen Grenzen unseres Königreiches markiert. Von hier sind es etwa …« Sie zuckte mit den Schultern. »Etwa fünfzehn oder zwanzig Tage, wenn man zu Fuß gehen muß, würde ich sagen. Das Gebäude ist so sicher wie eine Festung. Wir wäre sowohl vor irgendwelchen Angriffen wie auch vor den Elementen sicher, und in der Nähe gibt es ein Wäldchen, wo wir Feuerholz finden könnten. Wenn wir so weit kommen könnten, wäre es für Aurian bestimmt ein geeigneter Ort, um ihr Kind zur Welt zu bringen.«
Als Rabe die Hoffnung in Aurians Augen aufleuchten sah, hätten ihre Schuldgefühle sie um ein Haar erstickt. Denk an Harihn, sagte sie sich immer wieder. Denk an dein Volk! Aber den beiden Magusch ins Auge sehen zu müssen und gelassen ihre Fragen zu beantworten und dabei zu wissen, daß sie sie hinterging, war das Schwerste, was die Prinzessin je getan hatte.
»Woher bekommen wir etwas zu essen?« fragte Aurian sie. Das geflügelte Mädchen zuckte mit den Schultern, froh darüber, daß sie und Harihn über diese Probleme bereits nachgedacht hatten.
»In den Bergen müssen immer noch Tiere leben – Schneehasen, Ziegen, Winterhasen und so weiter. Aber für die Reise und für die ersten Tage dort müssen wir so viel mitnehmen, wie es nur geht. Wir können hier im Wald irgendwo ein geheimes Proviantlager anlegen, und wenn es uns dort an irgend etwas mangeln sollte oder es doch keine Tiere zum Jagen gibt, kann ich leicht zurückfliegen und uns etwas aus dem Lager holen.«
»Und denk nur«, fügte Nereni hinzu, »wie gut es für Aurian wäre, eine schützende Mauer um sich herum zu haben, wenn sie ihr Kind zur Welt bringt.«
Aurian nickte. »Ich widerspreche ja auch gar nicht. Das Problem ist nur, woher bekommen wir neue Pferde? Anvar und ich habe unsere in der Wüste verloren, und wenn wir wirklich genug zu essen mitnehmen wollen, brauchen wir zusätzlich noch ein oder zwei Packpferde.«
Alle sahen einander an. Gerade als Rabe sich fragte, ob sie denn wirklich alles selbst vorschlagen mußte, kam Yazour ihr zu Hilfe. »Wir könnten doch«, sagte er mit einem hinterlistigen Zwinkern in den Augen, »welche von Harihn stehlen. Nicht sofort«, fügte er hinzu, um ihren Protesten zuvorzukommen. »Das letzte, was wir wollen, ist, daß der Prinz den Wald nach verschwundenen Pferden durchkämmt. Aber könnten wir es nicht tun, kurz bevor wir aufbrechen – mit Rabe und Shia als Kundschaftern?«
Aurian grinste. »Gute Idee, Yazour!« Sie drehte sich zu dem geflügelten Mädchen um. »Rabe, ich bin dir aus ganzem Herzen dankbar.«
Es war schon spät, als sie zu Bett gingen. Wegen Harihn hatten sie beschlossen, Wachen aufzustellen, obwohl Eliizar darauf bestand, daß Yazour, Bohan und er selbst diese Aufgabe allein übernehmen würden, um Aurian und Anvar nach den Anstrengungen in der Wüste die Möglichkeit zu geben, endlich wieder einmal richtig zu schlafen. Vom nächsten Tag an sollten Shia und Rabe die Khazalim bewachen, um sicherzustellen, daß sie dem Lager der Kameraden fernblieben.