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»Stahlklaue!« stieß Chiamh hervor und dachte an den Gejagten Berg, der hinter dem Windschleier lag. Kein Xandim setzte jemals einen Fuß auf diesen Berg – die Legende besagte, daß jeder, der eine Nacht auf Stahlklaue verbrachte, dem Wahnsinn anheimgefallen war, falls er überhaupt jemals zurückkehrte. Der Berg reichte aus, um selbst die kühnste oder verwegenste Seele in Angst und Schrecken zu versetzen – Chiamh hatte immer gewußt, daß ihn irgendwann einmal ein unvorstellbares Unheil befallen haben mußte. Der Felsen war zerrissen und verzerrt, gequält und geschmolzen, beinahe bis zu seinen Wurzeln hinab. Nur drei gezackte Stumpen waren übriggeblieben, die wie Klauen in den Himmel ragten. Der bloße Anblick dieses Berges ließ das Windauge an Schmerz denken.

»Ja, in der Tat, Stahlklaue«, antwortete Basileus. »Die Überreste von Ghabal, der einst der größte und schönste von uns allen war. Hätten die Zauberer die Angelegenheit darauf beruhen lassen … Aber in ihrem Zorn haben sie uns alle bestraft. Sie nahmen uns die Dwelven – unsere Augen und Ohren und die einzigen, die uns außer den Zauberern hören konnten. Sie brachten sie auf die andere Seite des Meeres, von wo sie nicht zurückkehren konnten. Die Zauberer schickten sie unter die Erde und belegten sie dann mit einem Zauber: Wenn sie jemals ans Licht zurückkehrten, sollten sie sterben. Ohne die Dwelven lebten wir in Einsamkeit, gefangen in einem Wachtraum. Aber jetzt können wir es wagen, neue Hoffnung zu schöpfen, denn die Welt verändert sich. Vor nicht allzu langer Zeit begann mein Verstand zu erwachen und wieder umherzustreifen – um dich zu finden, obwohl du nicht der Grund dafür warst. Der Stab der Erde ist wieder da. Ich spüre, daß er immer näher kommt.« Der Ton des Moldan verriet seine Erregung. »Diese Zauberer haben irgend etwas vor, oder ich will ein Kieselstein sein! Kleines Windauge, weißt du irgend etwas von diesen Dingen

Chiamh runzelte die Stirn. »Vielleicht«, sagte er. »Letzte Nacht hatte ich eine Vision, und jetzt sind Fremdländer in unserem Land aufgetaucht …« Hastig erzählte er Basileus, was geschehen war.

»In der Tat«, stimmte der Moldan ihm zu, nachdem er seine Erzählung beendet hatte. »Diese Dinge müssen miteinander zusammenhängen. Und du glaubst, deine Anführer werden diese Fremden hinrichten

»Bestimmt. So will es unser Gesetz.«

»In diesem Fall müssen wir schnell handeln, um sie zu retten

»Kannst du mir helfen, sie herauszubringen?« fragte Chiamh eifrig. »Könntest du vielleicht einen Weg schaffen, der aus den Kerkern herausführt?«

»Leider nicht«, seufzte Basileus. »Es würde viel zu lange dauern, einen solchen Gang zu schaffen – und es wäre ohnehin sinnlos. Man hat die Gefangenen an einen anderen Ort gebracht

»Was?« schrie Chiamh auf. »Aber ihre Hinrichtung ist doch erst morgen!«

»Du weißt nicht, wie viele Stunden vergangen sind, kleines Windauge. Du warst sehr lange in meinem Körper, um den Kerker zu finden, und noch länger hat es gedauert, bis du wieder zurückkommen konntest. Als du dann endlich wieder in deinen Gemächern warst, hast du noch geschlafen, bevor wir unser Gespräch wiederaufnehmen konnten. Nach euren Lichtern zu urteilen, ist es bereits Morgen. Um die Gefangenen zu retten, mußt du jetzt sehr schnell handeln – wenn es nicht bereits zu spät ist

6

Stahlklaue

Im Gegensatz zu der tiefen Finsternis, die in Chiamhs Tal des Todes herrschte, war das Plateau des Windschleiers ein Ort der Luft und des Lichtes. Seinem südlichen Ende zu war es von einer Reihe Felsen und Schluchten durchzogen; nach Norden hin fiel es sanft ab und ging in die dunklen, von Pinien gesäumten Hänge über, die bis in das grüne Hochland der Küstenebenen reichten. Das Plateau war ein sturmgepeitschter Thron zwischen Gebirge und Flachland, der weder zur Erde noch zum Himmel gehörte – ein offener Tempel, den die Göttin für die Betrachtung ihrer Welt geschaffen hatte. Für die Xandim war es der Ort, wo nach einer Herausforderung ein Zweikampf ausgefochten wurde, und die Stätte des Gerichtes. Nur hier auf dem luftigen Altar der Göttin, von dem aus man einen atemberaubenden Blick über ihre ganze Schöpfung hatte, konnte der Stamm über Angelegenheiten von Leben und Tod entscheiden. Jetzt, in der kühlen, dunklen Atmosphäre einer Winternacht, verströmte das schneebedeckte Plateau ein Gefühl von Ehrfurcht und Mysterium. Verborgen zwischen den finsteren Steinen, die das Tor des Todestales bewachten, stand eine Gestalt, die sich gegen den scharfen Sturmwind zu schützen versuchte. Es war ein Mann in mittleren Jahren und mit ernstem Gesicht, kahlköpfig bis auf einen silbernen Rest kurzen Haares am Hinterkopf. Sein Blick war stolz und kompromißlos wie der eines jagderfahrenen Falken. Er hatte sich für seine Jahre gut gehalten; sein Bauch war flach und sein Körper so muskulös, wie er es in seiner Jugend gewesen war, als er zum ersten Mal im Ritus der Herausforderung die Führung über sein Volk gewonnen hatte. Phalias war sein Name, und er war der Führer und Rudelfürst der Xandim.

Der Rudelfürst stand vollkommen reglos bei den heiligen Steinen und wartete auf die Gefangenen. Nur der fauchende Wind zerrte an seinem schweren Umhang. Seine neugierigen Gefolgsleute, die hergekommen waren, um die Verhandlung über die Fremdländer zu beobachten, hielten sich in respektvoller Entfernung. Die seltsame Atmosphäre dieses geheiligten Ortes erfüllte sie mit Ehrfurcht, und leise flüsternd standen sie in Gruppen um das riesige Feuer herum, dessen gewaltige Flammen vom Sturmwind zu Boden gedrückt wurden. Phalias sah die ruhelosen, dunklen Schatten ihrer wehenden Umhänge, die wie die Schwingen von Rabenvögeln wirkten, und das gelegentliche helle Aufleuchten dort, wo das unstete Licht des Feuers sich auf einem grob geschmiedeten Halsring oder Armband widerspiegelte oder auf den polierten Perlen aus Stein oder Knochen, die sie in ihre Zöpfe geflochten hatten.

Die Älteren standen für sich zusammen – Männer und Frauen, deren Alter sich in ihrer Weisheit zeigte und nicht unbedingt in ihren Jahren. Obwohl jeder von ihnen Phalias beraten konnte, lag das letzte Urteil doch bei ihm allein. Sie waren anwesend, weil Gesetz und Tradition es so erforderten, aber diesmal würde der Rudelfürst sie eigentlich nicht brauchen. Die Angelegenheit, die er zu entscheiden hatte, barg keine Zweifeclass="underline" Fremden war der Zutritt zum Land der Xandim verwehrt, und die Strafe für Eindringlinge war der Tod. So einfach lagen die Dinge.

Phalias seufzte und zog seinen Umhang fester um seine Schultern, aber auch damit konnte er den eisigen Wind nicht fernhalten. Es war seine eigene Schuld, sagte er sich, daß er sich hier draußen halb zu Tode fror, statt in seinem warmen Bett in der Festung zu liegen und zu schlafen. Die Älteren hatten sich gegen diese Verhandlung ausgesprochen, da sie nur eine Zeitverschwendung war. Aber weil er darauf bestanden hatte, dem Gesetz Folge zu leisten, standen sie jetzt alle hier draußen. Obwohl er davon überzeugt war, daß die Traditionen zum Wohle des Stammes aufrechterhalten werden mußten, hatte Phalias nicht bedacht, daß diese Verhandlung schmerzhafte und unausweichliche Erinnerungen an das letzte Mal wecken würde, als er hier draußen gestanden und sein Urteil gesprochen hatte.

Das Gesicht von Iscalda, seiner früheren Verlobten, hatte sich in das Gedächtnis des Rudelfürsten eingebrannt. Bleich und mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen hatte sie vor ihm gestanden, und ihr flachsblondes Haar, das unter den Xandim etwas sehr Ungewöhnliches und einst ihr ganzer Stolz gewesen war, hatte ihr in wirren Strähnen übers Gesicht gehangen, als sie ihm an diesem Ort entgegengetreten war. Ihr Gesicht war eine steinerne Maske des Trotzes gewesen, als sie den Mann zurückwies, der ihren geliebten Bruder zur Verbannung verurteilt hatte. Phalias stieß einen kleinen, ärgerlichen Laut aus, ein leises Knurren, das tief aus seiner Kehle kam, als er an den Mann dachte, der seine geliebte Iscalda ins Verderben gerissen hatte. Schiannath! dachte er. Wenn ich ihn doch nur getötet hätte, als ich die Gelegenheit dazu hatte!