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Aber das Gesetz der Xandim bestimmte, daß nur Fremde hingerichtet werden durften. Die einzige Gelegenheit, bei der die Xandim einander töten konnten, war der Ritus der Herausforderung, in dem es um die Führung des Stammes ging – und Schiannath hatte sich diesem Kampf bereits unterzogen. Obwohl er verloren hatte, hatte er ihn überlebt, und dem Gesetz nach konnte die Herausforderung nicht wiederholt werden. Schiannath hatte seine Niederlage jedoch nicht mit Würde hingenommen. Er war ein stets Unzufriedener, ein Störenfried, und hatte versucht, die Autorität des Rudelführers in jeder Weise zu unterwandern. Der Stamm hatte darunter zu leiden gehabt. Zwar war die Verbannung die einzige Möglichkeit für den Rudelführer gewesen, die Ordnung wiederherzustellen, aber es schnürte Phalias die Kehle zu, daß der Missetäter noch immer irgendwo zwischen diesen pfadlosen Bergen leben konnte. Und Iscalda – war sie auch noch am Leben? Konnte sie sich noch an irgend etwas aus ihrer menschlichen Existenz erinnern? War sie an der Kälte gestorben oder von Wölfen gefressen worden, oder hatten die schwarzen Geister sie geholt, die die Berge heimsuchten? War nichts mehr übrig von ihr bis auf einen kleinen Haufen abgenagter Knochen irgendwo am Fuße eines Felsvorsprungs?

Mit einem gemurmelten Fluch versuchte der Rudelfürst, die schrecklichen Visionen zu verscheuchen. Was spielte es für eine Rolle, ob seine frühere Verlobte noch lebte oder schon tot war? Sie hatte ihn zurückgewiesen. Aber seit jenem Tag, als er sich in seinem Schmerz und seinem Zorn dazu hatte hinreißen lassen, sie zu einem Leben als Tier zu verdammen, wurde er von Schuldgefühlen und bitterer Reue heimgesucht. »Die Wahrheit ist«, seufzte Phalias bei sich, »daß ich, wenn es mir möglich wäre, ungeschehen machen würde, was ich an jenem Tag getan habe. Aber es darf niemals sein.«

Aus dem brodelnden Zorn des Sturms heraus schob die Sonne langsam ihre Krone über die gezackten Berge, und der Tag kroch auf schleichenden Füßen herbei, um das Plateau mit einem schwachen, geisterhaften Halblicht zu überziehen. Inzwischen wurden die Fremden herangeführt; gefesselt und verzweifelt gingen sie zwischen ihren Wachen.

Phalias, der froh darüber war, von seinen schwarzen Gedanken abgelenkt zu werden, sah zu, wie die Fremdländer vor ihm zu Boden geworfen und gezwungen wurden, auf dem eisenharten Grund niederzuknien. Es war eine seltsame Gruppe – der drahtige, kleine Mann, dessen ganze Haltung Trotz widerspiegelte; das hochgewachsene, blonde Kriegermädchen, dessen üppiger Körper ungezählte Freuden verhieß, dessen Augen jedoch kalt und hart wie eine gezückte Klinge waren; der alte Mann, der, wenn der Rudelführer sich nicht irrte, todkrank war und hohes Fieber hatte; und dann die andere, die knochige Frau mit den wahnsinnigen, hellseherischen Augen. Allein ein einziger Blick auf sie reichte aus, um dem Rudelfürsten einen Schauer über den Rücken zu jagen. Er riß seine Augen von ihr los und zwang sich zu sprechen, wobei er sich bei seiner Urteilsverkündung beinahe überschlug, so eilig hatte er es, ihrem unnachgiebigen, brennenden Blick zu entgehen.

»Ihr seid hier, um euch der Anklage des unerlaubten Eindringens in das Land der Xandim zu stellen«, sagte er zu ihnen und überlegte, während er sprach, ob er nicht dieses verflixte Windauge hätte herbeizitieren sollen, damit er seine Worte den Gefangenen übersetzte. Um die Wahrheit zu sagen, hatte er den Anblick des halbblinden Sehers jedoch nicht mehr ertragen können, seit Chiamh die Worte ausgesprochen hatte, die Iscalda für alle Zeit in Pferdegestalt bannten. Das Bewußtsein, daß er dem Windauge gegenüber nicht gerecht gewesen war – immerhin hatte Chiamh nur den Befehl des Rudelfürsten befolgt –, trug nicht dazu bei, die Laune des Rudelführers zu verbessern. Welche Rolle spielt es schon? dachte er. In wenigen Stunden werden diese Fremden tot sein – und ob sie die Gründe für ihre Hinrichtung verstehen oder nicht, wird für sie kaum von Bedeutung sein.

Also straffte Phalias seine Schultern und fuhr in der uralten Formel fort: »Ihr braucht nicht zu sprechen, denn es gibt keine Verteidigung für euch: Meine Krieger haben euch bei einem verbrecherischen Akt ertappt. Die Strafe für euer Vergehen ist der Tod …«

»Wie kannst du es wagen!« Die schrille Stimme, die plötzlich seine eigene übertönte, ließ Phalias seine sorgfältig vorbereiteten Sätze vergessen. Die Wahnsinnige! Wie kam es, daß sie die Sprache der Xandim sprach? Ihre Augen wurden größer – sie brannten sich in seine Seele hinein –, und ihre Stimme schrillte in seinen Ohren …

Als Chiamh endlich mit großer Verspätung und vollkommen außer Atem auf dem Plateau ankam, fand er eine Szene vollständiger Verwirrung vor. Der Rudelfürst schien bis ins Mark erschüttert zu sein, und sein graues Gesicht war von Zorn verzerrt. Er stand in einer Traube der Älteren, die wild gestikulierend und mit lauten Stimmen auf ihn einschrien. Was, um alles in der Welt, war geschehen? Chiamh strengte seine kurzsichtigen Augen an, so gut es ging, konnte aber keine Spur von den Gefangenen entdecken. Hatte man sie bereits hingerichtet? Waren sie irgendwie entkommen? »Gütige Göttin«, murmelte das Windauge. »Iriana von den Tieren – mach, daß ich nicht zu spät komme!« Ich warf einen Blick auf den erschütterten Rudelfürsten und gab jede Hoffnung auf, mit Phalias sprechen zu können. Statt dessen fand er einen ergrauten, alten Mann, der ein wenig abseits von den anderen stand und an seinen zahnlosen Kiefern saugte, während er dem Aufruhr mit lebhaftem Interesse folgte. »Was ist passiert?« fragte Chiamh und zerrte an seinem Ärmel.

»Holla, junges Windauge! Hast du die Verhandlung verpaßt? Da ist dir wirklich etwas entgangen«, teilte ihm sein vom Alter gezeichnetes Gegenüber genüßlich mit. »Der Rudelfürst sprach gerade sein Urteil, als plötzlich diese magere Hexe zu reden begann und sicheres Geleit durch unser Land verlangte. Ist das noch zu glauben?« Der Alte versuchte, sich stirnrunzelnd an die Worte der Wahnsinnigen zu erinnern. »Sie hat etwas im Süden zu tun, sagte sie, etwas, das nicht warten kann, nur weil eine Horde Wilder sie hier festhält!«

»Was?« entfuhr es Chiamh entsetzt.

»Es ist so wahr, wie ich hier stehe.« Der alte Mann nickte eifrig und mit offensichtlichem Entzücken über seine Rolle als Überbringer so ungeheurer Neuigkeiten. »Dieses große, hübsche Mädchen stößt sie und versucht, sie zum Schweigen zu bringen, und der kleine Bursche schüttelt den Kopf, als könnte er es einfach nicht glauben. Dann sagt diese Hexe doch tatsächlich, wenn unser Rudelführer versucht, sie aufzuhalten, wird sie ihn bis an das Ende seiner Tage verfluchen! Na, die Älteren waren aufgescheucht, als hätte sie in ein Hornissennest gestochen. Aber der Rudelfürst hat dann ein Machtwort gesprochen, und sie haben die Fremden hinaufgebracht zur Stahlklaue, um sie auf dem Feld der Steine als Frühstück für die schwarzen Geister auszusetzen, und … He, komm doch zurück …«

Chiamh hörte, wie die jammernde Stimme sich in der Ferne verlor, während er selbst, so schnell er konnte, an den hohen Steinen vorbei ins Tal hinunterrannte. Glücklicherweise würden die Wachen es nicht wagen, den direkteren Weg durch das Tal des Todes zu nehmen. Als Windauge hatte er jedoch Zugang zu einer Abkürzung …

Das Feld der Steine war, um genau zu sein, kein Feld, sondern einfach ein ungewöhnlich ebener Bereich auf den Hügeln, der mit niedrigen, flachdachigen, hohlen Felsbrocken übersät war. Sie schienen Unterkünfte irgendeiner Art zu sein, obwohl sie von den Xandim niemals als solche benutzt wurden, denn sie lagen in allzu großer Höhe, und das Klima war dort zu hart. Statt dessen hatten die Pferderitter diese Gebilde einem finsteren Nutzen zugeführt. Sie hatten auf den flachen Dächern Fesseln und Ketten angebracht und setzten hier ihre fremdländischen Gefangenen aus. Für gewöhnlich handelte es sich um plündernde Khazalim, die man auf ihren Raubzügen gefangengenommen hatte. Die Xandim hofften, mit diesen Menschenopfern die furchterregenden schwarzen Geister der Berge zu besänftigen.