Das Feld der Steine mit seinen grimmigen Erinnerungen an Tod und Blutvergießen lag auf einem langgezogenen Felsausläufer, hoch oben auf den Bergen, wo der Windschleier durch einen Bergsattel mit Stahlklaue verbunden war. Dieser Sattel bestand aus zerklüftetem Felsen, der bei den Xandim unter dem Namen Drachenschwanz bekannt war. Wie der gequälte Stein der Stahlklaue wirkte auch dieser steile Berggrat mißhandelt und an vielen Stellen zerbrochen, so daß ein Mensch kaum über diesen Weg auf den anderen Gipfel gelangen konnte, aber das war den Xandim nur recht so, die das Gebiet auf jener Seite ohnehin niemals betraten. Stahlklaue war das Jagdrevier der furchterregenden schwarzen Geister, die Menschenfleisch fraßen – und diese Geister konnten den Berggrat ohne Schwierigkeiten überqueren.
Chiamhs Abkürzung führte ihn durch sein eigenes Tal, und so hatte er Gelegenheit, kurz in seiner Höhle haltzumachen, um ein zusätzliches Gewand anzulegen und einen wärmeren Mantel, der ihn vor der eiskalten Luft in den größeren Höhlen schützen sollte. Außerdem packte er noch einige Decken zusammen, in die er sorgfältig eine Hasche mit starkem Wein einschlug. Dann schnürte er sich das unhandliche, dicke Bündel mit einem Seil auf den Rücken. Solchermaßen ausgerüstet, griff er nach einem mit einer Eisenspitze beschlagenen Stab, der ihm das Gehen auf den eisigen Hängen des Berges erleichtern sollte, und brach schließlich auf, um die Fremden zu retten.
Der geheime Weg, der über die seitlichen Hänge des Windschleiers führte, ging an einer Stelle vorbei, wo die dürftige Seilbrücke zu Chiamhs Kammer der Winde mit dem Berg verbunden war. Als erstes kam die schmale Felsbank, die bis zu seiner Brücke führte, dann das Felsmassiv, das sich zusammengefaltet zu haben schien und nur einen schmalen Pfad unter sich freiließ, der vom weiter unterhalb liegenden Plateau aus nicht zu sehen war. Dieser Pfad schlängelte sich den Berg hinauf, wo er schließlich mit dem Hauptweg zusammenlief, einem Trampelpfad, der im Zickzackkurs vom Plateau aus um einen langen Ausläufer des Windschleiers herumführte. Für Chiamh mit seinen unzureichenden, kurzsichtigen Augen war es ein furchtbarer Marsch. Er war daran gewöhnt, das Felsmassiv zu erklimmen, aber jetzt waren die schmalen Felssimse von spiegelglattem Eis überzogen. Dennoch schlitterte er lieber über diese schlüpfrigen Schneewehen an den geschützteren Stellen zwischen den hohen Felsen, durch die er sich nur mit größter Mühe vorwärtsbewegen konnte.
Müde, keuchend und mit vor Kälte tauben, schmerzenden Gliedern erreichte das Windauge endlich den Hauptpfad – und stellte wie erwartet fest, daß der schlimmste Teil seines Aufstiegs ihm noch bevorstand.
Der Sturmwind schlug auf Chiamh ein wie eine riesige Faust, als er auf die ungeschützte Eisfläche hinaustrat, die sich vor ihm erstreckte. Zu seiner Linken ragten die blanken Schneefelder steil empor, und nichts, nicht einmal ein Baum war da, um die Gewalt des Windes zu brechen. Zu seiner Rechten – das Windauge erschauderte. Es war besser, nicht daran zu denken! Wenn er zu weit in diese Richtung ging, würde er einen Abhang hinunterstürzen, der zwar nicht senkrecht, aber doch viel zu steil war, um ihm irgendwo Halt zu bieten. Es würde ein hilfloser, sich immer schneller beschleunigender Sturz werden – bis er den Fuß des Felsens erreichte und auf den Steinen am Boden aufschlug. Zum ersten Mal, seit er seine Vision gehabt hatte, machte Chiamh sich Gedanken darüber, ob die Fremden all dieser Mühe überhaupt wert waren. Dennoch … Leise vor sich hinfluchend, stieß das Windauge die Spitze seines Stabes heftig in das Eis und machte einen ersten, zaghaften Schritt über den gefährlich glatten Pfad.
Nach einer Zeit, die ihm wie eine Ewigkeit erschien, machte der Pfad, der immer steiler in die Höhe stieg, eine Biegung nach links und umrundete einen Vorsprung nackten, schwarzen Felsens. Zu seiner Erleichterung hatte Chiamh nun den Teil des Weges erreicht, auf dem sich der Abgrund nicht mehr unmittelbar neben ihm auftat, sondern erst hinter mächtigen Felsbrocken, die hier den Pfad säumten. Als der Weg schmaler wurde, hörte er Stimmen, die der Wind vom Feld der Steine zu ihm herübertrug.
Dank sei der Göttin! Obwohl er langsam und vorsichtig gegangen und jeden Schritt, mit dem er den schlüpfrigen Weg hinaufgestiegen war, vorher sorgfältig hatte abwägen müssen, erreichte Chiamh das Feld der Steine, bevor die Wachen, die die Gefangenen hierhergebracht hatten, ihren Rückmarsch antraten. Das letzte, was er brauchte, war eine Begegnung mit ihnen, denn er würde ihnen unweigerlich erklären müssen, was er hier oben tat! Gesegnet sei die Abkürzung, die ihm die nötige Zeitersparnis verschafft hatte! Vorsichtig versteckte sich das Windauge zwischen einer Ansammlung von Felsbrocken neben dem Trampelpfad. Dann betete er darum, daß die verflixten Wachen sich beeilten, und fand sich damit ab, noch ein wenig warten zu müssen.
Glücklicherweise verspürten die Wachen nicht den geringsten Wunsch, herumzutrödeln, bis die schwarzen Geister erschienen. Es hatte wieder angefangen zu schneien, und der heulende Wind wirbelte Schneeflocken über den Berg. Nach kurzer Zeit hörte Chiamh das knirschende Geräusch von Schritten im Schnee. Die Wachen kamen an seinem Versteck vorbei. Fluchend schlitterten sie den trügerischen Pfad hinunter und brummten in der typischen Manier der Soldaten vor sich hin. Der Sturmwind trug ihre Klagen zu Chiamh hinüber: »Nur wegen des Rudelführers und seines verdammten Gesetzes müssen wir in diesem Unwetter unseren Hals riskieren …«
»Ja, und wozu das alles? Diese stinkenden Fremdländer werden wahrscheinlich längst erfroren sein, wenn die Geister kommen …«
»Warum wir sie nicht einfach auf dem Plateau mit einem Schwert durchbohren konnten, werde ich nie begreifen …«
»Es wäre allerdings eine Verschwendung gewesen, dieses Mädchen zu durchbohren – zumindest mit einem Schwert! Wenn es nicht so kalt gewesen wäre, hätten wir sicher einigen Spaß mit ihr haben können …«
Als das Windauge Galdrus’ einschüchternde Stimme hörte, mußte er sich sehr beherrschen, um nicht zu hoffen, daß die Narren auf ihrem Weg nach unten über eine Felskante stürzen würden. Sobald sie endlich verschwunden waren, verließ er sein Versteck und machte sich auf den Weg über den felsigen Pfad zum Feld der Steine – bis ein Schwall von Flüchen und Schreien ihn abrupt zum Stehen brachte. O Göttin! Die Geister konnten doch unmöglich schon gekommen sein? Nicht nur die tödliche Kälte ließ ihn erzittern, und er wartete, bis die Stimmen verklungen waren. Dann schlich er langsam weiter, voller Angst vor dem, was er auf dem Feld der Steine vorfinden würde.
Parric lag der Länge nach ausgestreckt und hilflos auf dem flachen Todesstein. Die eisige Kälte der Fesseln brannte sich in seine Handgelenke und seine Fußknöchel ein. Bei allen Göttern, dachte er, ich wußte nicht, daß es so kalt sein kann! Der Schnee, der beim ersten Kontakt mit seinem Körper geschmolzen war, war mittlerweile wieder gefroren und verschweißte ihn mit dem Stein. Während die tödliche Kälte langsam von seinem Körper Besitz ergriff, begann sein Zorn auf die Xandim bereits in Verzweiflung überzugehen. Zorn war besser gewesen. Mit Zorn konnte man wenigstens noch kämpfen – aber wie hätte er denn kämpfen können, gefesselt und festgefroren, wie er war?
Ganz in seiner Nähe waren die anderen ebenfalls an große Felsbrocken gekettet. Sangra war irgendwo hinter ihm, so daß er sie nicht sehen konnte. Meiriel dagegen konnte er aus den Augenwinkeln noch erkennen, bald sichtbar und bald verschwunden hinter den wirbelnden, grauen Vorhängen aus Schnee. Der Kavalleriemeister kämpfte eine Woge des Zorns nieder. Dank irgendeines seltsamen Effekts des Sprachzaubers, den die Magusch bei den Xandim benutzt hatte, war es ihm möglich gewesen, Meiriels Worte während der Verhandlung zu verstehen, und es war sehr wahrscheinlich, daß jene Worte es gewesen waren, die ihnen dieses Ende beschert hatten. Wenn sie doch nur ihn zu dem Herrscher hätte sprechen lassen und er ihm hätte erklären können, daß sie nur durch sein Land hindurchreisen wollten und nichts anderes, daß sie schon bald wieder fort sein würden! Parric hatte sich alles zurechtgelegt, aber statt seine Worte zu übersetzen, hatte Meiriel eine typische Maguschtirade angestimmt – genau wie die, die dazu gerührt hatte, daß die Nachtfahrer sie von ihrem Schiff geworfen und überhaupt erst in diese schreckliche Situation hineingebracht hatten! Ihre Arroganz hatte sie alle getötet.