Elewin, der mit grauem Gesicht und vollkommen reglos zu seiner Linken lag, hustete jetzt nicht einmal mehr. Parric fürchtete, daß der grausame Marsch auf den Berg dem alten Mann den Rest gegeben hatte.
»So wie diese Kälte uns allen den Rest geben wird.« Der Kavalleriemeister war sich nicht bewußt, daß er laut gesprochen hatte, bis er Meiriels schrille Stimme hörte.
»O nein, du törichter Sterblicher – es wird nicht die Kälte sein, die euch den Rest gibt. Das war nicht der Grund, warum man euch hierher gebracht hat. Die Wachen haben geredet, und ich habe ihnen zugehört. Es gibt Dämonen hier oben, Parric – schwarze Geister, die diesen Ort heimsuchen. Ein Menschenopfer, das ist es, was du bist – du und deine übertrieben gefühlvollen sterblichen Freunde, – aber mich werden sie nicht bekommen!«
Noch während die Magusch sprach, flammten die Ketten, mit denen ihre Hand- und Fußgelenke gefesselt waren, in qualvoller Helligkeit auf und zerfielen zu Staub. Meiriel taumelte und sprang schließlich triumphierend auf die Füße – und Parric erstarb sein Freudenschrei in der Kehle, als sie ihren ehemaligen Kameraden den Rücken zuwandte und hastig davonstob. Ihre zerlumpten Röcke flatterten im Wind wie die Gewänder einer Vogelscheuche, als sie über die zerklüfteten Felsen lief. Binnen weniger Augenblicke war sie hinter dem dichten Vorhang aus Schnee verschwunden. »Mögt ihr verrotten, ihr verfluchten Sterblichen … Mich werden sie nicht bekommen!« Der Wind trieb Parric ihr höhnisches Gelächter zu, und er kämpfte unter bitteren Flüchen wild gegen seine Fesseln an.
»Komm zurück, du verfluchte Hexe!« kreischte Sangra.
Dann war plötzlich wieder alles still bis auf das heulende Ächzen des Windes.
Möge Chathak sie verfluchen, dachte der Kavalleriemeister. Ich hätte so etwas von Meiriel erwarten müssen – schließlich ist sie eine Magusch und obendrein noch verrückt. Elewin hat mich von Anfang an vor ihr gewarnt. Ihr Verrat hatte ihn wie ein Schwert durchbohrt und ihn bis ins Herz getroffen – irgendwie waren dadurch seine Angst und sein Elend endgültig besiegelt worden. Was für ein Narr er doch gewesen war, sich nach Süden zu wagen! Jetzt würde er Aurian niemals mehr finden – und was noch schlimmer war, er riß Sangra und Elewin mit sich in den Tod. Allein und unglücklich schloß Parric die Augen und weinte – bis er zu seinem Entsetzen entdeckte, daß seine Tränen gefroren und sich seine Augenlider nicht mehr öffnen ließen, so daß er vollkommen blind war. Wenigstens werde ich die Geister nicht sehen, wenn sie kommen, dachte er gequält, während er sich an Meiriels Worte erinnerte – und das war ein Fehler. Jetzt, da seine Augen versiegelt waren, übernahm seine Phantasie das Kommando.
Parric begann, Geräusche zu hören, die näher und näher kamen – und das heisere Zischen von Atemstößen durch Kiefer mit gewaltigen Fangzähnen; den taumelnden, knirschenden Laut eines gewaltigen Körpers, der sich zwischen den Felsen bewegte und seinem hilflosen Leib immer näher kam … Es kam, es kam! Parric stieß ein entsetztes Wimmern aus. »Gütige Götter«, stöhnte er, »nein!« Dann berührte ihn etwas. »Nein!« heulte er auf und versuchte, sich gegen seine Ketten zu stemmen.
»Es ist alles gut«, sagte eine Stimme hastig und in einer Sprache, die seine eigene war und auch wieder nicht. »Ich bin Chiamh. Ich bin gekommen, um euch zu retten.«
»Du verfluchter Idiot!« schrie Parric, der am Rande eines hysterischen Anfalls stand. »Ich dachte, du wärest einer von den verdammten Geistern!«
»Tut mir leid«, sagte die Stimme fröhlich. Warme Luft, feucht und mit einem schwachen Duft von Kräutern, strich prickelnd über Parrics Gesicht, als Chiamh seine Augenlider anhauchte, um das Eis zu schmelzen. Als Parric die Augen endlich wieder öffnen konnte, hatte auch sein Herz aufgehört, sich seinen Weg bis in seine Kehle hinauf zu erkämpfen, und er hatte sich genügend erholt, um sich wegen seines Ausbruchs zu schämen. Dann waren plötzlich alle anderen Gedanken aus seinem Kopf verschwunden, als er den rundgesichtigen, braunhaarigen, jungen Mann sah, der vor ihm stand. Es war die Erscheinung – diese ganz wirklich und greifbar –, die Erscheinung, die ihn schon in den Kerkern der Xandim heimgesucht hatte.
Das gab dem Kavalleriemeister fast den Rest. Der »Geist«, tastete kurzsichtig auf dem Boden umher, und irgendwie fachte der Anblick dieses freundlichen, ein wenig törichten Gesichts Parrics Ärger noch an. »Was hast du überhaupt mit uns vor?« knurrte er unüberlegt. Chiamh stand abrupt auf, und sein Grinsen verschwand wie die Sonne hinter einer Wölke. Dann sah Parric den Stein in seiner Hand. Einen Augenblick lang stockte dem Kavalleriemeister der Atem.
Mit einer schnellen, ruckartigen Bewegung seiner Faust donnerte Chiamh den Stein auf Parrics Fesseln. Als die Kante der ersten Fessel sich in sein Heisch bohrte, schrie Parric laut auf. Obwohl die Kälte seinen Körper zu taub gemacht hatte, als daß er den Schmerz hätte spüren können, fühlte er doch, wie heißes Blut über seine Hand lief, und wußte, daß er später höllische Schmerzen haben würde. »Sie sind nicht verschlossen, du Esel!«
»Ach!« Chiamh machte sich nicht die Mühe, sich zu entschuldigen. Statt dessen begann er, mit der Spitze seines Dolchs in dem hartnäckigen Metallschloß herumzustochern, das sein Schlag verzogen hatte. »Wirklich ein Glück«, fügte er hinzu, als das Schloß endlich nachgab. »Denn es sieht so aus, als hätten uns die Geister bereits gefunden.«
»Was?« Als er auch die andere Hand frei hatte, schoß Parric in die Höhe und machte sich verzweifelt und mit Fingern, die zu taub waren, um seinem Willen zu gehorchen, an seinen gefesselten Fußknöcheln zu schaffen.
»Aus dem Weg!« Chiamh schob Parrics Hände weg und befreite ihn schnell von den restlichen Fesseln. »Verhalte dich ganz still, mein Freund – sie sind direkt hinter dir.«
Parrics Haut kribbelte vor Entsetzen, als er sich umdrehte und dem Blick des Windauges folgte. Keine zwei Meter von den Steinen entfernt standen zwei Geister – alles andere als Gespenster, wie Parric bemerkte, sondern gewaltige Katzen von ehrfurchtgebietender Größe. Er schluckte, als er ihre riesigen Klauen sah, die wie stählerne Krummdolche waren. Dann stimmten die Katzen ein heiseres, drohendes Duett an, und er konnte auch ihre großen, weißen Fangzähne erkennen. Das glänzende Fell der einen Katze zeichnete sich tiefschwarz gegen den Schnee ab, während das ebenfalls schwarze Fell der anderen mit goldenen Tupfen gesprenkelt war. Die lodernden Lichter ihrer wachsamen, gelben Augen waren von einer unheimlichen und geheimnisvollen Intelligenz erfüllt. Parric stockte der Atem in der Kehle.
»Weißt du«, sagte Chiamh leise und beinahe beiläufig, »ich glaube, diese Katzen sind mehr als nur Tiere – und laßt uns um unser allen willen hoffen, daß ich recht habe.« Dann schien er zum Entsetzen des Kavalleriemeisters vollkommen wahnsinnig zu werden. Er ging auf die Geister zu und schien etwas zu tun, das in Parrics von Furcht glasig gewordenen Augen so aussah, als verdrehe er seine Hände, als wolle er einen unsichtbaren Knoten aus Luft knüpfen. Beide Katzen zuckten zusammen, und ihre goldenen Augen weiteten sich entsetzt, während sich ihre Nackenhaare aufstellten – dann schossen sie mit einem schauerlichen Geheul davon, als wäre ihnen der Tod persönlich auf den Fersen.