»Ich hatte recht!« lachte Chiamh. »Man muß Phantasie haben, um sich von einer Illusion einschüchtern lassen.«
Parric starrte ihn verblüfft an. »Warum hast du mich gerettet?« flüsterte er. »Was willst du von mir?«
»Das fragst du besser die Göttin«, erwiderte Chiamh knapp. »Denn ich weiß es ganz bestimmt nicht. Aber unsere Herrin der Tiere hat eine Aufgabe für dich, und es war ihre Vision, die mich zu dir geschickt hat.« Seine Steifheit verschwand jedoch gleich wieder, als er Parric die Hand reichte, um ihm aufzuhelfen. »Komm, laß uns deine Kameraden befreien.«
»Das wird aber auch wirklich Zeit, verdammt!« Sangras Stimme klang schwach aus der Richtung, wo ihr Stein lag, und Parric und Chiamh grinsten.
»Hier.« Der junge Mann streifte das Bündel von seinen Schultern und rollte es auf. Dann gab er dem Kavalleriemeister eine Hasche, die zu dessen großer Freude etwas enthielt, das reinem Alkohol sehr nahekam und wie ein Feuerstoß seine Kehle hinunterlief.
»Ah! Gut!« keuchte er. Als er sah, daß Chiamh bereits Sangras Ketten löste, warf Parric sich eine der Decken des jungen Mannes um die Schultern und ging schnell zu Elewin hinüber.
Der alte Mann regte sich nicht, als er später kam. Elewins Gesicht war eingesunken und seine Haut von einem furchtbaren bläulichen Grau. Während Parric ihm die Fesseln löste, konnte er keine Spuren von Leben in dem alten Mann mehr finden. »O ihr Götter, nein«, murmelte er. »Armer, alter Kerl. Nun ist er so weit gekommen, nur um zu sterben.«
»Laß mich sehen.« Chiamh schob ihn beiseite. Dann senkte er seinen zotteligen, braunen Kopf auf die Brust des alten Mannes und lauschte so lange, daß es Parric wie eine Ewigkeit erschien, bevor er sein Gesicht ganz nah an das von Elewin heranschob. »Noch nicht ganz tot, aber ziemlich nahe dran«, murmelte er. »Zu nah für meinen Geschmack, aber …«
Chiamh legte seine Hände auf die Brust des alten Mannes, dann auf sein Gesicht – schließlich hob er die Hände und bewegte sie in einer Reihe fließender Gesten, etwa so wie er es getan hatte, als er die großen Katzen verscheucht hatte. Er schien unsichtbare Figuren in die Luft zu zeichnen. Eingehüllt in eine Decke, kam Sangra mit Tränen in den Augen näher, und der Kavalleriemeister legte einen Arm um sie. Sie sahen verwundert zu, wie Chiamhs Hände sich geschmeidig über den Körper des alten Mannes bewegten und ihn – das schienen seine Gesten wenigstens anzudeuten – von Kopf bis Fuß in ein unsichtbares Gewebe hüllten.
Nach einer Weile blickte Chiamh auf, und Parric sah, daß das Gesicht des jungen Mannes trotz der furchtbaren Kälte auf dem Berg vor Schweiß glänzte. Chiamh wischte sich über die Augenbrauen und streckte wortlos die Hand nach der Flasche aus, die Sangra immer noch festhielt. »Es wird vielleicht lange genug halten«, sagte er und nahm einen kräftigen Schluck aus der Hasche. »Euer Freund ist alt, müde und sehr krank, und diese Kälte hätte ihn um ein Haar umgebracht. Aber ich habe etwas getan, das dafür sorgen wird, daß die Luft sich, zumindest für den Augenblick, weiter durch seine Lungen bewegt. Wenn es mir gelingt, ihn atmen zu lassen, bis wir ihn den Berg hinuntergetragen und zu mir nach Hause gebracht haben – nun, meine Großmutter hat mir viel über Kräuterlehre und Heilkunst beigebracht. Vielleicht kann ich ihn doch noch retten. Ich weiß, es ist viel verlangt, aber wenn ihr ihm eure Decken geben könntet …?«
Parric blickte zweifelnd zu Sangra hinüber. Sie war bleich, zu Tode erschöpft und lehnte zitternd an einem Felsen, als reichte ihre Kraft nicht, um sich aufrecht zu halten. Und um ehrlich zu sein, ging es ihm nicht viel besser.
»Pocken und Blattern!« murmelte Sangra. Dann seufzte sie, schüttelte ihre Decke ab und reichte sie Chiamh. »Na los«, sagte sie energisch. »Laßt uns von diesem verfluchten Berg verschwinden, bevor wir alle erfrieren.«
Während sie den bewußtlosen Elewin für den Rückweg in Decken einpackten, schaute Chiamh plötzlich stirnrunzelnd auf. »Was ist aus eurer Begleiterin geworden, der Wahnsinnigen?«
Parric blickte ihn finster an und zuckte mit den Schultern. »Vergiß sie!« sagte er.
Es dauerte nicht lange, bis Chiamh klar wurde, daß es schwierig werden würde, den alten Mann den Berg hinunterzubekommen. Seine Begleiter waren selbst vollkommen geschwächt, und die Kälte tat ihr übriges. Wieder und wieder krampfte sich sein Herz zusammen, wenn einer der Fremdländer auf dem steilen Pfad ausrutschte, der durch das Schneefeld führte. Es hätte wahrlich nicht viel gefehlt, und der tödliche Abgrund hätte doch noch sein Opfer gefordert.
Die Zeit schien sich zu einer Ewigkeit auszudehnen, während sie wie Fliegen über die endlose, weite Räche krochen; zwei von ihnen plagten sich jeweils mit dem reglosen Leib des alten Mannes ab, den sie zwischen sich trugen, während der dritte sich ein wenig ausruhte. Es war nur gut, daß ihr Weg meist abwärts führte. Wie die Dinge lagen, stellte Chiamh nach nicht allzu langer Zeit fest, daß er sich ständig um Elewin kümmern mußte, während die beiden anderen sich länger und länger ausruhten und mit einigem Abstand hinter ihm hertrotteten. Sie hatten keine Ahnung, wie sie sich auf einem Berg bewegen mußten, und ihre Sorglosigkeit jagte dem Windauge immer neue Schrecken ein, aber zumindest hatten sie genug Verstand, um zu wissen, daß sie stets weitergehen mußten, obwohl Parrics Gesicht tiefe Furchen der Müdigkeit zeigte und Sangra aussah, als könne sie jederzeit zusammenbrechen. Dennoch hatte sie genug Kraft, Chiamh eine schallende Ohrfeige zu geben – was sie um ein Haar alle vier die Felsen hätte hinabstürzen lassen. Nachdem er gesehen hatte, daß ihre Nasenspitze erste Erfrierungen aufwies, hatte er ihr ohne weiteres Nachdenken eine Handvoll Schnee ins Gesicht geschlagen.
Als sie endlich die Abzweigungen des Pfades erreichten, die in die Schlucht hinunterführte, hatte sich eine dichte Kappe düsterer Sturmwolken über dem Berg gebildet, die eine Rückkehr des furchtbaren Winters verkündete. Als Chiamh innehielt, sah es so aus, als wären die anderen nur Marionetten, von denen ein verspielter Gott endlich die Fäden abgeschnitten hatte. Nachdem sie den alten Mann in den Schnee gelegt hatten, lehnten sie sich aneinander und sanken zu Boden.
Chiamh konnte sehen, daß die beiden Fremdländer sich vollkommen verausgabt hatten. Wie sollten sie den alten Mann durch den Hohlweg tragen, der noch schwieriger zu begehen war als die Strecke, die hinter ihnen lag? Und was war mit dem Sturm, der immer näher kam? Wenn sie es nicht schafften, vor dem Schneesturm vom Berg zu kommen, würden sie es überhaupt nicht schaffen. Sangra warf dem Windauge zitternd und mit wirr über ihr Gesicht hängendem Haar einen vorwurfsvollen Blick zu und fluchte verbittert. »Ist es noch sehr weit?« flüsterte sie.
Chiamh nickte, und die drei sahen einander schweigend an. Es war Partie, der schließlich aussprach, was alle gedacht hatten. Er sah Elewin an und biß sich auf die Lippen. »Bist du sicher, daß du ihn am Leben halten kannst, bis wir zurückkommen?«
»Ich glaube schon.« Das Windauge zögerte. »Aber wenn ich das tue, werde ich nicht in der Lage sein, meine Kräfte zu benutzen, um den Sturm so lange zurückzuhalten, bis wir in Sicherheit sind – was ich sonst vielleicht geschafft hätte.«
Der Kavalleriemeister blickte noch einmal auf den alten Mann hinunter, weigerte sich aber, Sangra anzusehen. »Bist du sicher, daß du ihn retten kannst, wenn wir ihn nach unten bringen?«
Einen Augenblick lang geriet die Zuversicht des Windauges ins Schwanken. Parric bat ihn, eine Entscheidung zu treffen, die entweder den alten Mann oder vielleicht sie alle vier töten würde. War es das wert? dachte er bei sich. Ist es das wirklich wert, ein verbrauchtes Leben, das nur noch an einem dünnen Faden hängt, zu retten und dabei zu riskieren, daß wir alle hier auf diesem Berg sterben? Da drängte sich ihm plötzlich eine Vision von seiner Großmutter auf – und die alte Frau musterte ihn mit einem finsteren Stirnrunzeln. Chiamh zuckte zusammen, als hätte sie ihn geschlagen, und richtete sich hoch auf. »Natürlich kann ich den alten Mann retten, und wir werden ihn hinunterbringen«, sagte er mit einer Zuversicht, die er ganz und gar nicht empfand. Während er sprach, wickelte er das Seil auf, mit dem er ursprünglich das Bündel Decken zusammengebunden hatte.