»Helft mir, das Seil um ihn herumzulegen«, wies er die beiden anderen an. »Das Gefälle in der Schlucht ist sehr steil – wenn wir ihn nicht tragen können, gelingt es uns vielleicht, ihn wie einen Schlitten zu ziehen.«
»Sei nicht dumm, Mann! Damit würden wir den armen, alten Kerl doch erst recht den Rest geben«, protestierte der Kavalleriemeister.
Chiamh seufzte. Parric hatte recht, aber die Alternative war gerade das, was er zu vermeiden gehofft hatte; nämlich sich vor diesen Fremdländern zu verwandeln und das Geheimnis der Xandim zu verraten … Ganz zu schweigen von dem Risiko, sich auf diesen Felsen ein Bein zu brechen! Aber wenn sie den alten Mann retten wollten, gab es keine andere Möglichkeit.
»Hört mir genau zu«, sagte er zu Parric und Sangra. »Erschreckt nicht über das, was ihr gleich sehen werdet – ich werde mich verändern …« Er wußte, daß er die Sache besser erklären sollte, aber die Worte blieben ihm in der Kehle stecken. Also fuhr er eilig fort, bevor sie Fragen stellen konnten: »Bindet mir den alten Mann auf den Rücken, und ich werde ihn weitertragen. Wenn wir unten am Fuß des Berges angekommen sind, nehmt ihn mir wieder ab – für den letzten Teil des Kliffs werde ich meine menschliche Gestalt brauchen.« Noch während er sprach, trat er einen Schritt zurück und versuchte, ihren verwunderten Blicken auszuweichen, damit sie nicht anfingen, ihm schwierige und unpassende Fragen zu stellen. »Und jetzt, ihr beiden – tretet zurück!«
Mit diesen Worten veränderte sich das Windauge. Die erschrockenen Ausrufe seiner Kameraden schrillten laut in Chiamhs Pferdeohren, und ihr fremder Gestank brannte in seinen Nüstern. Er begann, am ganzen Leib zu zittern. Was habe ich nur getan? dachte er wild. Dann biß er die Zähne zusammen und schnaubte laut, bevor er nervös zu den anderen trat. Er hatte das Geheimnis der Xandim bereits verraten – jetzt gab es kein Zurück mehr.
Sangra war die erste, die sich von ihrem Schrecken erholte. »Sieben verfluchte Dämonen«, hauchte sie und schluckte. »Na schön«, sagte sie dann mit neuer Entschlossenheit. »Komm, Parric, hör auf zu zittern! Hilf mir lieber, Elewin hinaufzubekommen und diese Seile festzuziehen – Pferde sind doch das einzige, wovon du wirklich etwas verstehst.«
Für Chiamh war der Abstieg in die Schlucht ein Alptraum. Er war es nicht gewöhnt, in seiner Pferdegestalt zu tragen, und obwohl das Gewicht des alten Mannes im Vergleich zu der Kraft des Windauges nur sehr gering war, brachte ihn die unvertraute Last auf seinem Rücken doch aus dem Gleichgewicht und machte es ihm schwer, seinen Weg über den schlüpfrigen Pfad zu finden. Und zu alledem kam noch die Anstrengung, Elewin am Leben zu erhalten, indem er ihn weiteratmen Heß. Außerdem konnte er jetzt das Unwetter noch deutlicher spüren; der Druck der Sturmfront prickelte auf seiner Haut und erfüllte ihn mit dem instinktiven, animalischen Drang, seine Last abzuwerfen und zu fliehen. Bevor sie auch nur die Hälfte des Weges zurückgelegt hatten, zitterte Chiamh mit weit aufgerissenen Augen am ganzen Leib und war trotz des eiskalten Wetters naß geschwitzt.
»Na, na, seht – es ist bald alles wieder in Ordnung. Wir sind ja gleich unten.« Sangras beschwichtigende Stimme war leise und tröstlich. Eine Hand streichelte seinen Hals und fuhr sanft über seine Nase. Chiamh warf den Kopf zurück und schnaubte überrascht, aber ihre Stimme beruhigte ihn, und ihre Berührung war erstaunlich angenehm.
»Sangra, was zum Kuckuck tust du da?« Das Windauge hörte Parrics verzweifeltes Flüstern von seiner anderen Seite. »Er ist kein verdammtes Pferd, und das weißt du!«
Sangras Hand hielt in ihrem sanften Streicheln keinen Augenblick inne. »Im Augenblick ist er es«, sagte sie. Chiamh segnete sie für ihr Verständnis.
Als sie am Boden der Schlucht angekommen waren und seine Last von ihm nahmen, hatte Chiamh kaum noch die Kraft, sich zurückzuverwandeln. Sobald er das jedoch getan hatte, sank er, am ganzen Leib zitternd, im Schnee zusammen. Bunte Flecken tanzten vor seinen Augen. Sangra legte ihm eine von Elewins Decken um die Schultern. »Ist alles in Ordnung mit dir?« fragte sie ihn mit vor Staunen weit aufgerissenen Augen.
Er nickte. »Danke für deine Hilfe. Als Pferd fällt es einem schwer, geradeaus zu denken.« Seine Worte verloren sich in einem verschämten Lächeln.
Parric schüttelte den Kopf. »Das war das Unglaublichste …«, begann er, aber das Windauge fiel ihm ins Wort.
»Frag mich später.« Schneeflocken wirbelten in dem immer stärker werdenden Wind um sie herum. Chiamh sprang auf. »Kommt, wir müssen von dem Kliff herunter, bevor der Sturm beginnt.« In Wahrheit hatte er jedoch keine Ahnung, wie er diesen letzten Teil des Abstiegs bewerkstelligen sollte. Dieser unsichere, vereiste Felsausläufer würde für ihn schon schwierig genug zu begehen sein, und dabei war er an ihn gewöhnt, aber für unerfahrene, entkräftete Fremdländer … Chiamh spürte, wie die Verzweiflung ihn niederdrückte. Nachdem er sie so weit gebracht hatte …
»Fasse Mut, Windauge, denn ich bin auch der Berg. Nimm deine Last und vertraue mir. Ich werde euch nicht im Stich lassen.«
»Basileus!« rief Chiamh überglücklich. Die anderen schienen zu glauben, daß er nun endgültig den Verstand verloren hatte, und nur das Herannahen des Sturms brachte sie dazu, ihm zu vertrauen, als er ihnen versicherte, daß der Felsenausläufer nicht so unpassierbar sein würde, wie er aussah. Trotzdem folgten sie ihm erst, als er Elewin auf die Schultern nahm, und sich allein auf den Weg über den schmalen Pfad machte. Er konnte hinter sich noch ihr wildes Fluchen hören, während sie sich ebenfalls an den Abstieg machten. Aber wie Basileus versprochen hatte, war der Abstieg leicht. Es war, als klebten ihre Füße fest auf dem Stein des Felsausläufers, als hielte sie eine unsichtbare Hand sicher auf dem groben Stein des Kliffs. Chiamhs Last schien überhaupt kein Gewicht zu haben, weil auf diesem letzten, verzweifelten Stück ihres Weges die Kraft des Moldan durch seine Adern strömte. Als sie endlich den Spitzturm am Eingang des Tals erreichten, war das Windauge jedoch so froh wie nie zuvor in seinem Leben, endlich sein Zuhause zu erblicken.
7
Das Dach der Welt
Als die Gipfel jenseits des Waldes sich vom zarten Rot der Morgendämmerung in das flammende Gold des Sonnenaufgangs verwandelten, ging Rabe tief über dem Lager in die Kurve, wobei sie den Bäumen gekonnt auswich. Von ihrem Ausguck hoch oben in der Luft konnte sie zahlreichen, früh-morgendliche Aktivitäten beobachten. Yazour und Eliizar häuteten am Fluß zwei Hirsche, wobei Shia, die zweifellos bei der Jagd auf die Tiere begeistert geholfen hatte, ihnen zusah. Bohan trat gerade aus der anderen Richtung durch die Bäume, und die Kaninchen, die er gefangen hatte, baumelten schlaff von seinen gewaltigen Händen, während Nereni, die am Feuer das Frühstück vorbereitete, aufblickte und ihr zuwinkte. Das geflügelte Mädchen bemerkte mit einem Anflug von Ärger, daß Aurian und Anvar verschwunden waren – wieder einmal.
Rabe landete, und die Luftwirbel ihrer Flügel ließen das Feuer auffunkeln. Sie begrüßte Nereni mit warmen Worten und übergab ihr ihre Beute – zwei Fasane und eine Wildente, die sie dabei erwischt hatte, wie sie sich ein Stück stromaufwärts am Ufer ausruhte. »Wo sind die Magusch?« fragte sie.
»Vielleicht fischen gegangen oder die Pferde zusammentreiben.« Nereni gab ihr im Gegenzug für die Vögel eine Tasse dampfender Suppe. »Beim Schnitter, ich bin froh, daß wir morgen aufbrechen. Je früher ich wieder Wände um mich herum habe, um so besser.«