»Wahrhaftig«, murmelte Rabe und dachte an Harihn, Wie sehr sie ihn vermißt hatte, seit er zum Turm aufgebrochen war! Mehr als zwei Wochen lang hatte sie jetzt wie ein Packesel geschuftet und den anderen bei den Vorbereitungen für die anstrengende Reise in die Berge geholfen. Sie hatte so getan, als bewache sie Harihns Lager, hatte dabei geholfen, die groben Schutzzelte aus geflochtenen Zweigen aufzubauen, die nun überall um die Lichtung herum verstreut waren, hatte für Nereni Vögel gefangen, die diese kochte, und hatte für die Jäger als Kundschafterin gearbeitet, um Hirsche, Wildschweine und andere Tiere zwischen den Bäumen auszumachen. Ihre aufgeschürften, rauhen Hände bezeugten die Tatsache, daß sie Holz und Wasser herbeigeschafft hatte, als wäre sie nie eine Prinzessin gewesen. Und bei alledem hatte sie immer noch Zeit gefunden, Nereni bei ihrer endlosen Näherei zu helfen.
Nach der Gluthitze in der Wüste hatte sich die Kälte der Berge als Problem erwiesen, denn die Gewänder, die sie getragen hatten, waren für diese kälteren Gebiete zu dünn, und die Kleidung, die in Dhiammara gelagert gewesen war, um die Raubzüge des Khisu auszustatten, hatte Harihn mitgenommen. Die Gefährten hatten jedoch Glück gehabt. Am Waldrand hatte Bohan die verlassenen Zelte des Prinzen und seiner Gefolgschaft gefunden. Nereni, die ihren Nähkasten während des ganzen Weges durch die Wüste wie einen königlichen Schatz gehütet hatte, machte nun aus dem Seidenstoff der Zelte neue Kleider für sie alle; sie nähte sie in doppelten Schichten und fütterte sie mit Wolle von wilden Ziegen, mit dem Pelz der Kaninchen, die Bohan gefangen hatte, und den weichen, warmen Daunen von Rabes Vögeln.
Es war eine mühsame und lästige Arbeit, die den größten Teil von Nerenis Zeit in Anspruch nahm und so viel Zeit, wie das geflügelte Mädchen erübrigen konnte. Die anderen halfen, wo sie nur konnten; Bohan wirkte zu jedermanns Erstaunen Wunder mit Nadel und Faden und produzierte mit Fingern, die so dick waren, daß sie die Nadel verdeckten, flinke, zierliche Stiche. Aurian hatte sich beim Nähen als vollkommen nutzlos erwiesen, und obwohl sie mittlerweile nicht mehr in der Verfassung war, bei den anstrengenden Arbeiten im Lager zu helfen, schaffte sie es, sehr zu Rabes Unwillen, doch immer wieder, dieser verhaßten Tätigkeit zu entkommen.
Die Jäger, zu denen auch Shia gehörte, hatten jedoch alles Wild herbeigeschafft, das sie finden konnten. Einiges davon aßen sie und waren froh darüber nach dem gräßlichen Hunger in der Wüste, aber das meiste räucherten und trockneten sie für die Reise. Selbst die Pferde waren fleißig gewesen und hatten eifrig nach frischem Gras gesucht. Die Verbesserung ihres Zustandes war für alle deutlich sichtbar, während die Tage so schnell verflogen, wie die Flüsse des Waldes fließen konnten – bis die Magusch endlich, als Rabe ihre Ungeduld kaum noch ertragen konnte, beschlossen, daß es Zeit zum Aufbruch war.
»Aber wir haben doch jetzt bestimmt genug.« Aurian blickte auf den Haufen getüpfelter Forellen, die glitzernd und funkelnd am Flußufer lagen, und streckte mit einer Grimasse ihren schmerzenden Rücken.
»Es ist aber immer noch besser, als nähen zu müssen, nicht wahr?« neckte sie Anvar.
Aurian verzog das Gesicht. »Alles ist besser als diese Näherei!«
»Alles ist besser als deine Näherei«, kicherte Anvar. »Abgesehen von den schauderhaften Auswirkungen auf deine Laune hatte ich schon Visionen, wie die Kleider um uns herum in Stücke zerfielen, noch bevor wir auch nur den ersten Berg erklommen hätten.«
»Und du könntest es besser?« erwiderte Aurian.
»O nein! Wir Magusch mögen viele Talente haben, aber Nadelarbeit scheint irgendwie nicht dazuzugehören.«
Aurian hatte es geschafft, dem verhaßten Nähen zu entkommen, indem sie fischen ging, und so kam es, daß Anvar schließlich doch noch die Kunst des Forellenfangs erlernt hatte; nicht im Meer, sondern in den eisigen Waldflüssen und mit Aurian als seiner Lehrerin. Forral hatte ihr vor langer Zeit in Eilins See die notwendigen Kunstgriffe beigebracht, und Aurians Herz krampfte sich jedesmal zusammen, wenn sie an ihr jüngeres Selbst dachte, einen mageren, kleinen Kobold mit zerzaustem Haar, der bis zu den Ellbogen in den stillen Seewassern gestanden hatte, während er jede Bewegung des Schwertkämpfers nachahmte, mit Augen voller Bewunderung und einem Gesicht, das vor Freude leuchtete. Ach, das waren glückliche Tage gewesen! Jetzt war sie erwachsen und hatte die bittere Schale der Trauer und der Entbehrungen bis zur Neige ausgetrunken. Ein anderer Kopf, blond statt braun, kauerte ganz in ihrer Nähe, während sie durch die bernsteinfarbenen Waldbäche spähte, und Anvars leuchtend blaue Augen irrten wieder und wieder vom Wasser ab, um sehnsüchtig zu ihr hinüberzuschauen.
Anvar, der am Flußufer saß, säuberte die Fische mit schnellen, geübten Bewegungen. »Kommst du heute abend mit uns?« erkundigte er sich beiläufig, während sie ihren Fang in einen von Nerenis geflochtenen Körben stapelte. Aurian wußte, daß die Frage, so beiläufig sie auch klang, alles andere als das war und leicht eine der Streitereien auslösen konnte, die in letzter Zeit so häufig zwischen ihnen waren. Seit sie der Wüste entkommen waren, hatte Anvar begonnen, ihr mit seinem Beschützerinstinkt auf die Nerven zu gehen, aber Aurian wußte, daß dem, was sie im Augenblick tun konnte, enge Grenzen gesetzt waren.
»Was?« fragte sie ihn in entrüstetem Tonfall. »Du willst, daß ich Pferde stehlen gehe? Im Wald, mitten in der Nacht, in meinem Zustand?« Sie grinste, als sie das kurze Aufflackern von Erleichterung in seinem Gesicht sah. »Erwischt!«
»Biest!« Er warf einen Fisch in ihre Richtung, und Aurian fing das schlüpfrige Geschöpf mitten in der Luft auf, bevor es sie treffen konnte.
»Bist du verrückt«, protestierte sie. »Wir müssen ihn noch essen.«
»Um genau zu sein«, kehrte sie zu ihrem ursprünglichen Thema zurück, »habe ich die Absicht, im Bett zu liegen und zu schlafen, wenn ihr heute abend aufbrecht, also macht keinen Lärm.«
»Das glaube ich erst, wenn ich es sehe«, brummte Anvar. »Aber im Ernst, Aurian, wirst du das wirklich tun? Macht es dir nichts aus?«
Die Magusch sah ihn durchdringend an. »Anvar, es macht mir mehr aus, als ich sagen kann. Aber was würde ich euch schon nützen? Ich kann mich nicht schnell genug bewegen, und es würde mir schwerfallen zu kämpfen, wenn es sein müßte. Aber was ist, wenn es eine Falle ist? Hast du daran schon einmal gedacht? Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, warum Harihns Leute so lange hier verweilt haben. Und es erstaunt mich wirklich, daß sie uns nicht gefunden haben.«
Anvar schüttelte den Kopf. »Warum sollte es eine Falle sein?« wandte er ein. »Sie wissen doch nicht, daß wir ihre Pferde stehlen wollen, und da Shia und Rabe die ganze Zeit unser Lager bewacht haben, hätte keiner von ihnen nahe genug herankommen können, um uns auszuspionieren. Wenn du mich fragst, ich glaube nicht, daß der Prinz überhaupt noch dort ist.«
»Was?« Das war eine Neuigkeit für Aurian.
»Nun, denk doch mal darüber nach. Rabe hatte keine Ahnung, wie viele Leute zur Gefolgschaft des Prinzen gehörten, aber als Shia das Lager ausgekundschaftet hat, sagte sie, die Hälfte der Leute wäre verschwunden – vor allem von den Bewaffneten. Du weißt, wie kaltblütig Harihn uns zurückgelassen hat – ich glaube, er ist mit seinen Soldaten vorgegangen und hat seine Diener zurückgelassen, die ihn auf dem Weg durch die Berge wahrscheinlich nur aufhalten würden. Wenn diese Leute versuchen, sich hier niederzulassen, würde das erklären, warum sie jagen und Früchte sammeln, statt die Gegend zu erkunden.«
»Bei den Göttern, daran habe ich überhaupt nicht gedacht.« Aurian runzelte die Stirn. »Das würde Harihn ähnlich sehen. Wenn du recht hast, sollte es die Expedition heute nacht erheblich erleichtern, aber trotzdem …« Sie beugte sich vor und legte eine Hand auf seinen Arm. »Anvar, um alles in der Welt, sei vorsichtig, ja?«