Die Reise forderte von jedem seinen Tribut. Das Essen für die Menschen und Pferde war streng rationiert, und es war nie genug, um ihnen die Kraft zu geben, sich gegen die harten Märsche und die tödliche Kälte zu wappnen. Die kleine Gruppe wurde mit jedem Tag reizbarer, und selbst der sanftmütige Bohan zeigte immer öfter eine finstere Miene. Außerdem hatte er eine auffällige Abneigung gegen Rabe entwickelt, aber da er nicht sprechen konnte, war er nicht in der Lage zu erklären, warum das so war. Anvar machte sich die größten Sorgen um Aurian. Tag um Tag wurde sie hagerer und hohlwangiger, während das Baby ihr die Nahrung für sein eigenes Wachstum stahl, bis seine Mutter nur noch aus Bauch und Knochen bestand. Da ihr mittlerweile selbst zum Reden die Energie fehlte, wehrte sie sich nicht länger gegen seine Hilfe, während sie sich Schritt für Schritt weiterzog und sich auf den Stab der Erde stützte, den sie mit erfrorenen, mit Lumpen umhüllten Fingern umklammerte. Nachts konnte sie keinen Augenblick lang aufhören zu zittern, obwohl Bohan und Shia sich an sie schmiegten und Anvar immer in ihrer Nähe war, um ihren Körper mit dem seinen zu wärmen. Anvar konnte zu seiner zunehmenden Bestürzung keine Möglichkeit finden, ihr Leiden zu erleichtern, und er wünschte sich aus ganzem Herzen, die Qualen beenden zu können, die Miathan seiner Geliebten und zahllosen anderen neben ihr bereitete.
Während die Tage sich dahinschleppten und die Gefährten ihren kalten, erbärmlichen Marsch fortsetzten, ließ ein Gedanke Anvar nicht mehr los. Warum sollte Aurian ihre Sicherheit und die ihres Kindes aufs Spiel setzen? Er verfügte doch jetzt über seine eigenen Kräfte, und die Magusch hatte ihn, bevor sie ihre Magie verlor, so gut es nur ging ausgebildet. Vielleicht konnte er einen Weg finden, selbst gegen Miathan zu kämpfen. Hätte er sich Aurian anvertraut, hätte sie ihm so tapfere, aber auch törichte Ideen ausgetrieben, denn ohne die fehlenden Waffen hatten sie zu zweit kaum eine Chance gegen den Kessel und würden vielleicht nur einen Krieg zwischen zwei gleich starken Mächten auslösen, einen Krieg, der die ganze Welt zerstören konnte. Aber Anvar behielt seine Gedanken für sich und arbeitete immer weiter an einer Idee, die wie ein Krebsgeschwür in ihm wuchs. Er war überzeugt, daß das seine Chance wäre, seine Mitschuld an Forrals Tod zu sühnen.
Die Freunde waren bereits einige Tage unterwegs, als der Schneesturm zuschlug. Den ganzen Morgen über waren sie geklettert und hatten die Pferde, die seltsam unruhig waren, an ihren Zügeln geführt. Plötzlich spürte Aurian den ersten, scharfkörnigen Schnee im Wind – harte, winzige Kügelchen, die in der rissigen Haut ihrer Hände und ihrer Gesichter brannten und in feinen Strängen über die Felsen wehten und sich schließlich, ohne zu schmelzen, in jeder Felsspalte sammelten. Der Himmel wurde schwarz und schwer, als senkten sich die Wolken, um ihnen bei ihrem Marsch den Berg hinauf entgegenzukommen. Die Gewalt des Windes nahm immer weiter zu, und Rabe, die vor ihnen hergeflogen war, landete plötzlich neben den beiden erschöpften Magusch. »Ich glaube, wir sollten zurückkehren«, sagte sie. »Es gibt keine Möglichkeit für uns, irgendwo Schutz zu finden – wir nähern uns dem höchsten Punkt des Berggrats, und da oben sieht es ziemlich schlimm aus.«
Aurian fluchte. Die Hänge um sie herum bestanden aus nacktem Schotter, und weiter unten war es dasselbe gewesen. »Auch dort, wo wir hergekommen sind, gibt es mittlerweile keine Zuflucht«, sagte sie. Alle sahen einander an, und keiner von ihnen wollte auch nur ein winziges Stück ihres so hart erstrittenen Fortschritts verlieren. Bevor sie noch zu einer Entscheidung kamen, war die Luft voll von weißen, dicken Flocken, die mit schockierender Plötzlichkeit auf sie niederprasselten; der Schnee war so dicht, daß es ihnen schwerfiel zu atmen und sie einander kaum noch sehen konnten.
»Bleibt, wo ihr seid!«„rief Yazour. Aurian streckte die Hand aus, um nach Anvars Ärmel zu greifen, und spürte, wie seine Hand sich fest um ihre eigene schloß. Auf ihrer anderen Seite fühlte sie Bohans große Hand auf ihrer Schulter und hoffte, daß ihre Kameraden einander auf die gleiche Weise festhielten.
Eliizars Stimme durchdrang das anschwellende Heulen des Windes. »Bleibt zusammen!« rief er. »Bindet die Pferde im Kreis aneinander und stellt euch in ihren Kreis hinein!« Es war schwer, seinem Rat Folge zu leisten, blind wie sie waren und mit den eingeschüchterten Pferden; außerdem waren ihre Hände fast taub und völlig unbeholfen durch die Kälte. Nach größten Anstrengungen fanden sie sich schließlich in dem notdürftigen Schutz des Kreises zusammengekauert wieder, während der Schnee sich um sie herum auftürmte. Sie versicherten sich, daß sie alle da waren, indem sie einander berührten. Keiner von ihnen wagte es, sich hinzusetzen, aus Angst, daß er nie wieder aufstehen würde.
Die Kameraden klammerten sich aneinander und teilten ihre Wärme, die der gnadenlose Wind jedoch schnell aus ihren Knochen sog. Aurian hatte schon lange alles Gefühl in ihren halb erfrorenen Füßen verloren, und die Kälte durchdrang mit schläfriger Taubheit ihren Körper. Sie führte sie zurück in ihre Kindheit, zu jenem Tag, an dem sie in dem endlosen Schnee nach Forral gesucht hatte … Sie erwachte in der warmen, hell erleuchteten Küche im Turm ihrer Mutter, dort am See, und sie sah das ängstliche Gesicht des Schwertkämpfers auf sie hinunterblicken …
»Aurian, wach auf!« Es war Anvars Stimme. Aurians Traum schmolz dahin wie Schnee – o gütige Götter, der Schnee! Sie öffnete mit einigen Schwierigkeiten die Augen und zog sich hoch. Anvar schüttelte sie. »Dank den Göttern, daß du in Ordnung bist! Du bist eingeschlafen, du Dummkopf! Hätte ich nicht gespürt, wie du zu Boden gesunken bist …«
Aurian stöhnte. »Ich hatte einen wunderbaren Traum.«
»Das will ich hoffen«, erwiderte Anvar grimmig, »denn es wäre um ein Haar dein letzter gewesen.«
Zum ersten Mal fiel der verwirrten Magusch auf, daß sie Anvars Stimme plötzlich recht deutlich hören konnte. Der Wind hatte sich gelegt. Es schneite immer noch, aber deutlich schwächer als zuvor, und Aurian konnte in einem Umkreis von mehreren Metern ihre Umgebung erkennen. Nicht, daß es viel zu sehen gab … nur Schnee und noch mehr Schnee – und ihre Begleiter, die von dem schrecklichen Zeug so dicht eingehüllt wurden, daß sie kaum noch von dem blendendweißen Hintergrund zu unterscheiden waren.
Rabe mit der ihrer Rasse angeborenen Widerstandskraft gegen die Kälte schien von allen die munterste zu sein. »Wir müßten jetzt eigentlich schon ziemlich nah am Turm sein«, sagte sie. »Wenn ihr hier wartet, fliege ich hinauf und stelle fest, wo wir sind.«
Nereni seufzte. »Ich wünschte, wir könnten Feuer machen. Wir brauchten jetzt alle eine warme Mahlzeit.«
Nereni würde sich jedoch weiter vergeblich nach einem Feuer sehnen müssen. Den mageren Vorrat Feuerholz, den sie vom letzten Tal mitgenommen hatte, hatten sie schon vor einigen Tagen aufgebraucht. Die Kameraden brauchten jedoch nicht lange zu warten, bis Rabe zurückkehrte. »Das habe ich mir doch gedacht«, sagte sie zu ihnen. »Der Turm liegt am anderen Ende des nächsten Tals. Wir sollten ihn eigentlich vor der Dunkelheit erreichen können, nur daß …« sie zog eine Grimasse. »Für euch flügellose Geschöpfe gibt es da vielleicht ein Problem.«
Grimmig und schweigend drängten die Wanderer ihre müden, halb erfrorenen Pferde durch brusthohe Schneewehen hindurch bis hinauf auf den Gipfel des Hügels. In der Nähe dieses Gipfels wurde das Gehen leichter, denn der Wind hatte dort den Schnee weggeblasen, bis er nur noch eine hauchdünne Schicht über den dunklen Felsen bildete. Auf dem windgepeitschten Berggrat hielten sie kurz inne, um sich über die nächsten Schritte ihres Marsches Klarheit zu verschaffen. Unter ihnen öffnete sich ein weites Tal, dessen leuchtendes, vom Schnee ersticktes Weiß nur hier und dort von dunklen Klumpen verzerrten Immergrüns durchbrochen wurde, das sich unter seiner wintrigen Last krümmte wie ein alter Mensch. Über dem Tal ragten gewaltige Gipfel auf, die wie scharfkantige Reißzähne nebeneinanderstanden, als warteten sie darauf, sich in eins ihrer jämmerlichen, menschlichen Opfer zu bohren.