Die Magusch spürte, wie ihr Mut sank beim Anblick des Weges, den sie vor sich hatten. Jetzt, da sie die Bergkuppe erreicht hatten, konnte sie nur allzugut verstehen, warum Rabe diesen Weg als Problem betrachtet hatte – ein Ausdruck, der Aurians Ansicht nach eine ungeheure Untertreibung war. Der Paß unter ihnen, der einzige Weg, der ins Tal hinunterführte, war unter Schneemassen begraben.
»Genau das brauchen wir jetzt«, seufzte Aurian. »Wie sollen wir es je schaffen, uns da einen Weg durchzukämpfen?«
Shia, die in den Bergen geboren und aufgewachsen war, betrachtete den von Schneewehen versperrten Paß. »Der Weg sieht ziemlich steil aus«, meinte sie. »Eine Lawine würde ihn vielleicht frei machen, zumindest so weit, daß wir da hinunterklettern könnten. Wenn wir nur eine auslösen könnten …«
»Eine was?« Anvar hockte neben ihr. Er hatte seine kalten Hände unter seinem Mantel versteckt, während die große Katze ihm von den gewaltigen Schneerutschen erzählte, die sich manchmal von den Berghängen lösten und alles, was ihnen im Weg stand, mit sich rissen. Er runzelte die Stirn und blickte noch einmal auf den Paß hinunter. »Glaubst du, es wäre möglich, eine solche Lawine auszulösen?«
»Natürlich.« Shia hielt inne. »Solange du bereit bist, denjenigen zu opfern, der das tut – denn das Risiko, von den Schneemassen mitgerissen zu werden, ist ungeheuer groß.«
»Oh!« Enttäuschung spiegelte sich auf Anvars Gesicht wider, aber die Worte der großen Katze hatten Aurian zu denken gegeben. »Anvar, glaubst du, du könntest den Schnee mit dem Stab der Erde in Bewegung setzen?«
Er drehte sich zu ihr um, und sein Gesicht leuchtete vor Erregung. »Aurian, du bist unschlagbar! Das heißt … wenn es dir nichts ausmacht, ihn mir noch einmal zu leihen?«
Aurian zuckte mit den Schultern. »Wenn ich die Wahl habe, dir entweder den Stab zu leihen oder mir auf diesem verfluchten Berg den Hintern abzufrieren, ist das keine Frage für mich. Aber, Anvar, ich bitte dich, um der Götter willen, sei vorsichtig. Der Stab hat die Eigenschaft, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen; er ist so mächtig, und Shia hat uns gerade erzählt, wie gefährlich diese Sache ist. Du mußt es erst gründlich durchdenken, bevor du etwas tust und – «
»Ich weiß, ich weiß!« Er grinste sie an. »Keine Angst, Aurian. Ich komme schon zurecht.«
Die Magusch zog den Stab aus ihrem Gürtel und reichte ihn ihm, obwohl sie im gleichen Augenblick von einer unguten Vorahnung überfallen wurde. Diese Situation war ganz anders als die, in der er den Stab zum ersten Mal benutzt hatte, vor einigen Wochen bei ihrem Kampf in der Wüste. Damals hatte er um sein Leben gekämpft – und sie hatte außerdem ihre beruhigende Hand auf dem Stab gehabt, um einen Teil von dessen ehrfurchtgebietender Energie abzufangen. Ich und meine klugen Ideen, dachte Aurian. Einen erschreckenden Augenblick lang sah sie in Anvar das, was er in ihr gesehen haben mußte, als sie den Stab in der Stadt der Drachen errungen hatte. In seinen Augen glühte ein Feuer wie von Saphiren, während er zum Eingang des Passes hinüberschritt, wo der Schnee sich vertiefte und der Weg zum Tal hin abzufallen begann.
»Tretet zurück!« rief Anvar fröhlich. Aurian fluchte leise. Sie wußte, wie es war – sie hatte diese Euphorie ebenfalls verspürt, als sie den Stab zum ersten Mal in den Händen gehalten hatte. Sie konnte bereits sehen, daß sein Zauber erste Wirkung zeigte, denn ein Gewebe leuchtend grüner Linien schlängelte sich einen Weg durch den Schnee und hinunter zum Fuß des Passes. Aber Anvar brauchte doch nur ein wenig von dem Schnee auf dem Gipfel zu bewegen, hatte Shia gesagt. »Anvar, nein!« schrie Aurian.
Die Kraftlinien flackerten in einem blendenden, smaragdgrünen Licht. Mit einem Rumoren, das zu einem ohrenbetäubenden Dröhnen anstieg, begann der Schnee, den schmalen Hohlweg hinabzudonnern; polternd und grollend krachte er in einer unerbitterlichen Woge zu Boden, während die Erde unter ihnen zitterte und bebte und große Wolken pudriger, weißer Kristalle in die Luft stiegen. Das Schneebrett, auf dem Anvar stand, begann sich zu bewegen, rutschte nach vorn und hinunter in die Tiefe. Anvar, der wild um sich schlug, um das Gleichgewicht zu halten, schrie in schriller Verzweiflung noch einmal laut auf – und war verschwunden.
8
Incondors Turm
Die Erde zitterte, und in den Ohren der Gefährten dröhnte das verklingende Tosen der Lawine. Schnee wirbelte hoch hinauf in die Luft und rieselte dann wieder auf sie herab. Rabe flog wie ein erschrockener Vogel auf. Die verängstigten Pferde bäumten sich auf und versuchten, dem Eunuchen die Zügel aus der Hand zu reißen. Eines der Tiere schaffte es und schoß nach vorn, wo es mit einem Schrei, der mit übelkeitserregender Plötzlichkeit abbrach, im Abgrund verschwand. Bohan und Nereni waren unter den Hufen der wild ausschlagenden Tiere zu Boden gefallen, und Aurian kämpfte mit aller Kraft darum, das Gleichgewicht zu halten, indem sie sich grimmig an den Zügel ihres rasenden Reittieres klammerte. Dann wurde die Welt langsam wieder ruhig.
»Anvar!« Mit schwerem Herzen versuchte Aurian, auf den Rand des Abhangs zuzutaumeln, aber mehrere Hände hielten sie zurück. Nach einem verzweifelten Kampf wurde ihr klar, daß Yazour und Eliizar an ihren Armen hingen. »Warte, Aurian«, drängte der junge Krieger sie, »sonst verlieren wir dich auch noch!«
Während die Echos der Lawine langsam erstarben, trat Aurian in Begleitung von Yazour und Eliizar nach vorn und blickte voller Angst hinunter in den Paß. Kristallisierte Wolken aus pudrigem Eis hingen wie ein silberner Nebel in der Luft über den Schneemassen und verhüllten Rabe neben ihnen. »Wir müssen warten, bis der Schneestaub sich legt.« Sie klang sehr niedergeschlagen. »Ich kann da unten nichts erkennen.«
Aurian fluchte. »Ihr könnt ja warten. Ich gehe jedenfalls sofort.«
»Laß mich gehen – ich kann mich auf diesem glatten Boden schneller bewegen.« Es war Shia. »Folgt mir – aber paßt gut auf, meine Freunde. Wir wollen heute keine weiteren Stürze mehr.« Mit einem einzigen Satz war die große Katze verschwunden.
Hinter der Magusch rafften Bohan und Nereni sich mühsam auf. Bis auf ein oder zwei blaue Flecken schien der Eunuch unverletzt zu sein und machte sich nun humpelnd daran, die Zügel der Pferde wieder zu ergreifen. Eliizar mußte einer durch und durch erschütterten Nereni erst auf die Beine helfen. Ihr Gesicht war tränenüberströmt, und Blut sickerte aus einer Schnittwunde an ihrer Stirn, wo eines der Pferde sie mit dem Huf getroffen hatte. Aurian war wie betäubt vor Schreck und über Anvars Verschwinden – sie konnte sich nicht dazu überwinden, es anders zu nennen – und dachte benommen, daß Nereni Glück hatte, überhaupt noch am Leben zu sein. Und damit kehrten ihre Gedanken wieder zu Anvar zurück.
Der felsige Weg des Passes war durch die Lawine beinahe völlig vom Schnee befreit worden. Das, was noch von ihm übrig war, hatte die Lawine so zusammengepreßt, daß es aussah wie Glas. Aurian durchlief ein Schaudern des Entsetzens. Unwillkürlich griff sie nach ihrem Gürtel, nach dem Stab der Erde, der ihr dabei helfen sollte, das Gleichgewicht zu halten – und hielt jäh inne, ihre Augen weit aufgerissen vor Schreck. Bei den Göttern, wenn der Stab verlorengegangen war! … Sie schrieb alle Vorsicht in den Wind und rannte den Berghang hinab.
Glücklicherweise holte Yazour sie ein, bevor sie mehr als ein oder zwei Schritte weit gekommen war – und selbst das war beinahe genug gewesen, um sie den Hohlweg hinunterstürzen zu lassen. Er bekam gerade noch rechtzeitig ihren Arm zu fassen, als sie das Gleichgewicht verlor. »Paß auf!« schalt er sie und reichte ihr einen der kräftigen Spazierstöcke, die Bohan, bevor sie den Wald verließen, für seine Begleiter geschnitzt hatte. »Du hättest warten sollen.«