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»Aber …«, protestierte Aurian.

Der Krieger brachte sie zu Schweigen. »Ich weiß«, sagte er traurig. »Wir haben jedoch keine andere Wahl – wir müssen langsam gehen, wenn wir unversehrt unten ankommen wollen.«

Obwohl Aurian außer sich war vor Angst um Anvar und den. Stab, war es unmöglich, den Paß einigermaßen schnell hinunterzuklettern. Zwischen dem schweren, grauen Himmel und den steilen, zu beiden Seiten aufragenden Wänden konnte man kaum etwas sehen, und der Weg war wie Glas unter ihren Füßen. Aurian mußte jeden ihrer Schritte genau überprüfen, bevor sie ihr Gewicht verlagerte, und um die Dinge noch schlimmer zu machen, brachte ihr über dem Kind gewölbter Leib sie noch zusätzlich aus dem Gleichgewicht.

Auf halbem Weg nach unten kamen sie an dem unglücklichen Pferd vorbei. Es lag mit zerbrochenen Gliedern und blutüberströmt neben dem Pfad, Hals und Beine in unmöglichen Winkeln von sich gestreckt. Aurian wandte sich mit einem Kloß im Hals und zusammengebissenen Zähnen ab, denn sie konnte nicht aufhören, an Anvar zu denken. Yazours Hand schloß sich über ihrem Arm. Ein Blick auf sein grimmiges, bleiches Gesicht, und Aurian wußte, daß seine Gedanken in die gleiche Richtung gingen wie ihre. »Vielleicht sollten wir auf die anderen warten?« schlug er zaghaft vor.

Die Magusch schüttelte den Kopf. »Es hat keinen Sinn, die Sache aufzuschieben.«

Und gerade da, im dunkelsten aller Augenblicke, explodierte Shias Stimme in Aurians Gedanken. »Anvar lebt!« Es war nur gut, daß die Lawine bereits zu Tal gerollt war. Aurian stieß einen Freudenschrei aus, der sie wieder einmal das Gleichgewicht kostete, und rutschte den Pfad hinunter. Yazour fing sie auf, und gemeinsam rutschten sie noch einige Meter weiter, bevor sie unsicher vor der steinernen Mauer des Hohlwegs zum Stehen kamen, während Yazour die Luft mit Flüchen versengte. Aurian drückte ihn an sich. »Es geht ihm gut, Yazour! Shia sagt, er ist in Ordnung!«

Der Krieger hörte jäh auf zu fluchen. »Ihr Zauberer! Wie, im Namen des Schnitters, hat er das geschafft?«

Anvar lag halb betäubt in einem Schneehaufen am unteren Ende des Pfades und fragte sich genau in diesem Augenblick dasselbe. Shia sah ihn ängstlich an und stupste ihn von Zeit zu Zeit mit ihrem großen, schwarzen Maul. »Nichts gebrochen?« fragte sie scharf.

»Ich glaube nicht … Ich kann meine Arme und Beine noch bewegen …«

»Das würde ich dir auch sehr empfehlen, denn sonst erfrierst du!«

Anvar stöhnte und benutzte den Stab, um seinen schmerzenden Körper auf unsichere Füße zu ziehen. Er hatte das magische Artefakt auf jedem Zentimeter seines wilden und erschreckenden Sturzes mit aller Kraft umklammert gehalten. Shia drückte ihren massiven Leib gegen Anvar und stützte ihn, als er ins Taumeln geriet. »Idiot!« fauchte sie. »Aurian hat dich gewarnt und dir gesagt, du solltest stehenbleiben!« Mit flammenden, goldenen Augen sah sie ihn über die Schulter hinweg an, und der Magusch, der seine Hände in dem dicken, warmen Pelz ihres Rückens vergraben hatte, bedachte sie mit einem einfältigen Lächeln. Ihrer Gedankenstimme, die wegen ihrer Angst um ihn zwar scharf klang, fehlte jedoch der harte Tonfall echten Zorns, und er wußte, daß sie dankbar dafür war, ihn lebendig und mehr oder weniger in einem Stück wiederzusehen. Anvar war immer noch ein wenig schwindlig von dem Sturz, und plötzlich ließ er sich wieder in den Schnee sinken. Dann schmiegte er sich eng an die große Katze – und das nicht nur, um bei ihr Wärme zu finden.

»Ich bin auch froh, dich wiederzusehen«, sagte er mit ernster Stimme.

Noch glücklicher war er jedoch, Aurian zusammen mit Yazour den Pfad hinunterschlittern zu sehen. Yazours Gesicht verzog sich zu einem Grinsen der Erleichterung, als er ihn erblickte. Der Krieger schlug Anvar so fest auf die Schulter, daß der Magusch zusammenzuckte. Dann zog er sich taktvoll zu dem schlüpfrigen Hohlweg zurück, um Eliizar mit den Pferden zu helfen und die beiden Magusch mit Shia alleinzulassen. Aurian sah jämmerlich aus, und auf ihrem aschfahlen Gesicht lag ein grimmiger Ausdruck. Anvar wappnete sich gegen den Sturm ihres Zorns, obwohl er wußte, daß er ihn diesmal wirklich verdient hatte. »Es tut mir leid«, sagte er zu ihr. »Du hast mich gewarnt, und ich hätte auf dich hören müssen.«

Die Magusch ließ sich im Schnee neben Anvar auf die Knie sinken; sie hätte ihn am liebsten verflucht und mit ihren Fäusten auf ihn eingeschlagen, weil er ihr solche Qualen zugefügt hatte. Aber sie brachte es nicht fertig. Als sie ihn dort sah, zitternd und mit blauen Lippen, seine Kleider zerrissen und naß, seine Haut aufgeschürft und an manchen Stellen voll blauer Flecken – nun, wie konnte sie da wütend sein, wo sie doch so froh war, ihn lebendig wiederzuhaben? Sie hätte ihn am liebsten umarmt – und um ein Haar hätte sie vor Erleichterung darüber, ihn sicher wiederzusehen, geweint. Aber das grauenvolle Gefühl des Entsetzens, als sie ihn verloren wähnte, war noch nicht von ihr abgefallen und lag wie ein Bleiklumpen in den Tiefen ihres Magens. Statt seines Gesichtes sah sie plötzlich die kalten, leblosen Züge Forrals, nachdem der Todesgeist sein Leben ausgelöscht hatte.

Aurian spürte, wie ihre Hände zu zittern begannen. Statt sich der trostlosen und furchtbaren Möglichkeit eines neuerlichen Verlustes zu stellen, suchte sie Zuflucht in energischen Worten. »Ich verstehe es, Anvar. Ich hätte es wissen müssen – der Stab hat zuviel Macht. Ich erinnere mich noch daran, wie es in Dhiammara war, als ich ihn zum ersten Mal in Händen hatte und die Stadt um mich herum zerfiel.«

Anvar sah sie überrascht an. »Aber das war nicht deine Schuld. Das war doch gewiß ein Zauber des Drachenvolks.«

»Nun, das mag sein«, gab Aurian zu, »aber selbst wenn die Zerstörung meine Schuld gewesen wäre, hätte ich nichts dagegen tun können. Was heute geschehen ist, war ein Fehler. Da du den Stab bereits in der Wüste benutzt hast, dachte ich, es wäre schon in Ordnung, aber damals konnte sich die Kraft des Stabes auf den Kampf richten – sie mußte irgendwo hin. Als du in dieser Lawine verschwunden bist – bei den Göttern, ich dachte …«

Als Anvar ihr einen Arm um die Schultern legte, wußte Aurian, daß sie sich verraten hatte. »Und Shia hat mich einen Idioten genannt!« schalt er sie. »Warum machst du dir Vorwürfe? Du hast mir den Stab anvertraut und mich gewarnt, vorsichtig zu sein – wieso soll das Ganze jetzt plötzlich deine Schuld sein? Außerdem«, fuhr er fort, »war es der Stab, der mir das Leben gerettet hat, glaube ich. Seine Kraft schien mich zu umgeben und die schlimmste Wucht des Sturzes abzufangen. Ich erinnere mich daran, wie ich mich immer wieder überschlagen habe; es ging alles so schnell … Dank den Göttern war der größte Teil der Lawine bereits vorüber, bevor ich zu fallen begann, sonst wäre ich jetzt gewiß tot.« Anvar schauderte und schwieg.

Aurian wollte nicht daran denken. »Komm schon«, sagte sie energisch, »du darfst nicht einfach dasitzen und dich zu Tode frieren. Laß uns ein paar trockene Kleider für dich aussuchen. Wir müssen jetzt weitergehen. Wir haben bessere Chancen, diese Nacht zu überleben, wenn wir vor Einbruch der Dunkelheit diesen Turm finden.« Mit diesen Worten half sie dem durchgeschüttelten Magusch auf die Beine und nahm ihm den Stab der Erde aus der Hand. Ohne sich dann noch einmal nach Anvar umzusehen, stolperte sie zu der Stelle, wo Eliizar und die anderen gerade damit beschäftigt waren, die Pferde den Pfad hinunterzuführen.

Verwirrt und nicht wenig verletzt durch die plötzliche Wandlung in Aurians Verhalten, begann Anvar zu fluchen. »Die Götter mögen mir helfen, ich werde sie nie verstehen.« Obwohl er mit sich selbst gesprochen hatte, fing Shia seinen Blick auf.

»Ihr Verhalten scheint mir vollkommen klar zu sein.«

»Du kannst ja auch ihre Gedanken lesen, verdammt!« murmelte Anvar leise vor sich hin, während er zu den anderen hinüberhumpelte.