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Eliizar wirkte vollkommen untröstlich. »Wir haben beim Abstieg noch ein Pferd verloren«, erklärte der Schwertmeister Aurian, als Anvar hinzukam. »Als es ausrutschte, konnte ich es nicht festhalten.«

»Das Tier hat sich ein Bein gebrochen«, ergänzte Yazour mit leiser Stimme. »Wir mußten es von seinem Leiden erlösen.« Er seufzte.

»Es war nicht eure Schuld«, tröstete Aurian sie. »Ich dachte mir schon, daß es schwierig werden würde, die Pferde herunterzubringen. Ihr habt eure Sache gut gemacht, denn die anderen sind immerhin heil hier angekommen.«

»Sehr wahr«, erwiderte Yazour grimmig. Er zeigte auf die müden, entkräfteten Tiere. Anvar sah, daß eines von ihnen einen Fuß vorsichtig vom Boden weghielt, und ein anderes hatte sich in der Nähe des Knies einen bösen Schnitt zugezogen. »Diese beiden hätten wir auch noch verloren, hätte Bohan nicht die Kraft gehabt, sie festzuhalten, als sie ausgerutscht sind.«

Eliizars Miene hellte sich bei Anvars Erscheinen auf, und Nereni, deren Gesicht blutig und verschrammt war, stieß einen schrillen Freudenschrei aus und umarmte ihn. Aurian, die die verletzten Pferde untersuchte, überließ es Nereni, Salbe auf Anvars Wunden aufzutragen und ihm trockene Kleidung zu suchen. Sie selbst nahm überhaupt keine Notiz mehr von ihm.

Der Abstieg durch den tiefen Schnee am Fuß des Hohlwegs war genauso furchtbar wie der Marsch zum Paß hin, und die Gefährten brauchten lange, um sich ihren Weg durch die zusammengestauchten Schneewehen zu bahnen, als sie ins Tal hinunterkamen. Während sie sich immer weiter mühten, verdunkelte sich langsam der Himmel; ob es an der Abenddämmerung oder an einem neuen Unwetter lag, hätte Anvar nicht sagen können, denn er hatte im Schneesturm jeden Überblick über die Zeit verloren. Und schließlich stellte es sich heraus, daß es beides war.

Der Turm lag am entgegengesetzten Ende des Tales, hoch oben auf einem zerklüfteten, mit Bäumen umsäumten Hügel. Als sie eine Ansammlung verkümmerter Pinien erreichten und die massige Gestalt des Gebäudes über sich aufragen sahen, war die Luft wieder einmal voller dichter Schneeflocken. Bei dem Gedanken an die Gefahr, in der kommenden Nacht zu erfrieren, machten sich alle mit letzter Kraft daran, abgebrochene Äste zusammenzusuchen, die sie den müden Pferden für den letzten Aufstieg über den steilen, schlüpfrigen Pfad auf den Rücken banden.

Die viereckige, schon halb zerfallene Silhouette des uralten Turms ragte schwarz in den Himmel auf. Die Tür war zugefroren, und Bohan mußte die ganze Kraft seiner mächtigen Schultern aufwenden, bevor die schwere Holzplatte endlich mit knirschender Klage aufsprang. Im Inneren war es stockdunkel, und die Kameraden, die nicht wußten, was sie dort erwartete, blieben widerwillig am Eingang zurück. Yazour zog an Anvars Ärmel. »Anvar, kannst du Licht machen?«

Durchgefroren und erschöpft, wie er war, und mit einem Verstand, der durch den Schock seines gewaltigen Sturzes noch halb betäubt war, fiel es Anvar schwer, sich auf die Worte des Kriegers zu konzentrieren. Nach einiger Zeit nickte er jedoch und versuchte, die Kraft zusammenraffen, die notwendig war, um einen Feuerball zu schaffen. Nichts geschah. Er fluchte und versuchte es noch einmal, schloß seine Augen und konzentrierte sich mit solcher Macht, daß ihm Schweiß auf die Stirn trat. Die kleinen Schweißperlen gefroren zu Eis, aber es geschah immer noch nichts. Sein müdes Gehirn weigerte sich einfach, seinem Willen zu gehorchen.

»Hier.«

Anvar öffnete die Augen und sah Aurian, die ihm den Erdenstab entgegenstreckte. Nach seinem jüngsten Mißgeschick und der Kühle, die sie anschließend ihm gegenüber an den Tag gelegt hatte, war er erstaunt darüber, daß sie ihm das kostbare Artefakt noch einmal anvertrauen wollte. »Bist du sicher?« Hinter dieser einen Frage standen tausend andere. Die Magusch nickte nur und legte ihm den Stab in die Hand. Wieder spürte Anvar, wie die Kraft des Stabes wie flüssiges Feuer durch seine Adern rann und unzerstörbare Hoffnung in seinem Herzen aufflammte. Er hob den Stab und hörte ein gedämpftes Aufkeuchen der anderen hinter sich, als die Spitze in zischende Flammen ausbrach und den Weg, der in das düstere Maul des Gebäudes führte, in helles Licht tauchte.

Die Kameraden folgten Anvar in den Turm hinein und in die einzige, kreisförmige Kammer, die sich in seinem Inneren befand. Bohan nahm ein Bündel Holz von dem Rücken eines Pferdes und warf es in den leeren Kamin. Anvar stieß den flammenden Stab mitten ins Herz der kleineren Aste, die zum Anzünden des Feuers gedacht waren, und alle brachen in Jubel aus, als das feuchte Holz zu glimmen begann und die ersten hellen Flammen aufloderten. Erst da gestattete er dem Feuer des Stabes zu ersterben. Es fiel ihm schwer, sich von solcher Pracht zu trennen. Als er sich widerwillig umdrehte, um Aurian das Artefakt zurückzugeben, zog sie eine Grimasse und schüttelte den Kopf. »Behalt ihn«, murmelte sie, »zumindest für den Augenblick. Mir nützt er ja nichts, solange ich in diesem Zustand bin.«

Oh, wie sehr er doch versucht war, ihr Angebot anzunehmen, aber … »Nein«, sagte Anvar. »Du hast ihn gefunden. Du hast ihn wiedererschaffen – er gehört eindeutig dir. Du wirst ihn schon sehr bald wieder gebrauchen können.« Aber sie hatte sich bereits abgewandt. Seufzend und sehr vorsichtig lehnte Anvar den Stab in einer schattigen Ecke an die Wand, wo er keinen Schaden nehmen konnte.

Die lodernden Flammen und die dampfende Hitze der Pferde und der Menschen, die sich auf kleinem Raum zusammendrängten, erwärmten das kahle Turmzimmer schon sehr bald. Während Nereni, die im Angesicht sicherer Wände und eines Kamins neue Kraft zu finden schien, ihre Vorräte plünderte, um einen ihrer herzhaften Eintöpfe zuzubereiten, und Yazour die verletzten Pferde verarztete, machten sich Eliizar und Bohan Fackeln und brachen auf, um den Turm auszukundschaften. Nach kurzer Zeit kehrten sie mit der Neuigkeit zurück, daß der Turm aus drei Stockwerken bestände. Über der groben Steinkammer lag ein weiteres, kreisförmiges Zimmer mit einer wackligen Leiter, die durch eine Falltür hindurch auf das flache Dach darüber führte. Unter der Kammer im Erdgeschoß lag, verbunden durch eine schmale Treppenflucht, ein feuchter, aber massiver Kerker, der in das Fundament hineingehauen war.

Das Abendessen war eine schweigsame Angelegenheit, denn jeder aus der müden, ausgehungerten, kleinen Schar schenkte dem Essen mehr Aufmerksamkeit als dem Gespräch. Im Laufe der Zeit, und nachdem sie ein gewisses Maß an Behaglichkeit erzielt hatten, begannen sich jedoch alle ein wenig zu entspannen – mit Ausnahme der beiden Magusch. Nereni mußte Aurian sehr bedrängen, damit sie überhaupt etwas aß, und dann saß sie schweigend und geistesabwesend da, ohne sich auch nur im geringsten am Gespräch zu beteiligen. Anvar war fast genauso schlimm und konnte dem exzellenten Mahl kaum gerecht werden.

Später, als die anderen in einen erschöpften Schlummer gefallen waren, stellte er fest, daß er selbst nicht schlafen konnte. Seine Enttäuschung über Aurian erreichte langsam einen Punkt, an dem sie sich in Zorn verwandelte. Was stimmte nicht mit ihr? Sie konnte ihm doch unmöglich seinen Sturz so übelnehmen? Nun ja, er hätte durch seine Voreiligkeit den Stab verlieren können, aber am Ende war doch alles gutgegangen. Nachdem er sich eine Weile unruhig von einer Seite auf die andere gewälzt hatte, gab Anvar den Versuch, einzuschlafen, endgültig auf. Er zündete eine Fackel an und kroch nach oben auf das Dach, wo er in der kühlen Einsamkeit der verschneiten Nacht ein wenig innere Ruhe zu finden hoffte.

Aurian erwachte aus einem Schlaf, der lange auf sich hatte warten lassen und in dem sie immer wieder von den ruhelosen Bewegungen des Kindes in ihrem Leib gestört worden war. Verschlafen vor sich hinmurmelnd, drehte sie sich um, um eine bequemere Lage zu finden, und Shia, die sie mit ihrer Unruhe geweckt hatte, öffnete ein Auge. »Grübelst du immer noch?« fragte die Katze spitz.

Aurian seufzte und setzte sich auf. Wie sehr sie sich doch nach einer Flasche von dem Pfirsichlikör sehnte, den sie und Forral so gern getrunken hatten. Ach, sich herrlich zu betrinken, für eine Weile alles zu vergessen und allem zu entkommen – vor allem dem Wirrwarr der widersprüchlichen Gefühle, die sie zu verzehren schienen, wann immer sie an die beiden einzigen Männer dachte, die ihr je am Herzen gelegen hatten. Shia beobachtete sie immer noch und wartete offensichtlich auf eine Antwort.