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»Na schön«, sagte Aurian resigniert. »Als Anvar heute in diese Lawine stürzte, dachte ich, er wäre tot. Es hat so weh getan, Shia, so weh wie damals, als ich Forral verlor. Ich möchte so nicht mehr empfinden – niemals wieder und für keinen Menschen. Einmal war mehr als genug.« Sie schluckte, um den Kloß in ihrem Hals zu vertreiben. »Außerdem«, fuhr sie fort, »lenkt mich dieses ganze lächerliche Getue von meinem Kampf gegen Miathan ab, und das ist doch unsere Hauptsorge. Ich habe keine Zeit für solche Sachen, Shia. Es könnte uns unser Leben kosten.«

»Also ziehst du dich von Anvar zurück und versuchst, deine Gefühle zu vergraben«, überlegte Shia. »Nun, in einer so kleinen Gesellschaft wie unserer kannst du ihm nicht aus dem Weg gehen. Es sieht so aus, als müßtest du ihn wegschicken oder selbst gehen.«

Aurian starrte Shia entsetzt an. Was? Ihre Mission allein erfüllen, ohne Anvar? »Aber das kann ich nicht!«

Die große Katze seufzte. »Warum müßt ihr Menschen die Dinge immer so kompliziert machen? Ich vermute, daß das Problem sich lösen wird, sobald du aufhörst, gegen deine eigenen Gefühle anzukämpfen.« Sie sah Aurian tief in die Augen. »Hör mir zu, meine Freundin. Warum quälst du dich so? Du hast ihn spätestens seit der Wüste geliebt, obwohl ich vermute, daß die Saat dazu schon lange davor gesät worden ist. Niemand lebt ewig, Aurian. Auch ich nicht. Ich schmeichle mir, daß du ein gewisses Maß an Traurigkeit über meinen Verlust empfinden würdest – möchtest du deswegen auch unsere Freundschaft lösen?«

»Natürlich nicht!«

»Warum muß dann der arme Anvar so leiden?« Aurian verspürte Shias geistiges Gegenstück zu einem Schulterzucken. »Immerhin«, fuhr die Katze hinterhältig fort, »besteht jede Chance, daß er dich überleben wird!«

Mit einem schuldbewußten Seitenblick auf ihre schlafenden Freunde versuchte Aurian, ihr Gelächter zu dämpfen. »Meine liebste Shia, was würde ich nur ohne dich anfangen? Du hast das erstaunlichste Talent dafür, mich zu trösten und mir gleichzeitig klarzumachen, was für eine Närrin ich doch bin!«

»Ihr gebt mir ja auch reichlich Gelegenheit zum Üben, du und Anvar«, erwiderte Shia trocken. »Geh zu ihm und sprich mit ihm – er ist auf dem Dach«, fügte sie hilfsbereit hinzu, während Aurian, der es plötzlich leichter ums Herz war als in der ganzen letzten Zeit, bereits die Turmtreppe hinaufeilte. Sie war so mit ihren Gedanken an Anvar beschäftigt, daß sie überhaupt nicht bemerkte, daß Rabe verschwunden war.

Schwarzkralle fühlte sich unwohl in dem Pinienwald unterhalb des Turms. Dieser schien von allen Seiten auf ihn einzustürzen, versperrte ihm den Blick auf den offenen Himmel und rückte ihm so nahe, daß er kaum noch atmen konnte. Und trotz all der Widerstandskraft seiner Rasse gegen die Kälte schauderte er doch, als er versuchte, durch den wirbelnden Schnee und den Wirrwarr der Bäume, die seine Beute verbargen, hindurchzuspähen. »Ist es nicht langsam an der Zeit, daß wir zum Angriff übergehen?« flüsterte er dem Prinzen zu. »Meine Krieger sind dieser endlosen Warterei überdrüssig.«

»Hab Geduld, du Idiot!« fuhr Harihn ihn an. »Beim Schnitter, Hoherpriester, denk an unseren Plan! Die Prinzessin wird herkommen und uns Bescheid sagen, wenn sie schlafen. Wir müssen auf ihre Nachricht warten – dann greifen meine Männer den Turm an, und deine Krieger kommen von oben hinzu. Und Schwarzkralle – denk daran, daß ich sie lebendig haben will!«

Der Hohepriester der Geflügelten nickte ungeduldig und kämpfte gegen seine Verärgerung an. Bei Yinze – hielt sein Verbündeter ihn vielleicht für einen kompletten Narren? Aber nackte Angst hinderte ihn daran, dem Prinzen eine heftige Erwiderung zu geben. Denn hinter dem törichten, leeren Ausdruck auf Harihns hübschem Gesicht brannte der harte und furchterregende Blick des Erzmagusch Miathan!

»Harihn?« Rabe stolperte durch die Büsche und wünschte, die Nacht wäre heller, so daß sie hätte fliegen können. Es wäre einfacher und weit weniger schmerzhaft gewesen, dachte sie, als sie das Blut von einem neuen Kratzer leckte. Bei den Augen Yinzes, wo steckte er nur?

Sehr zur Erleichterung des geflügelten Mädchens gaben die elastischen Zweige vor ihr endlich nach, und sie fand sich auf einer Lichtung wieder. Rabe runzelte verwirrt die Stirn und stampfte gereizt mit den Füßen auf. Harihn hatte ihr versprochen, sie auf einer Lichtung in der Nähe des Turms zu treffen, aber diese hier war offensichtlich nicht die richtige. Und doch … Rabe blinzelte in die Düsternis. War das nicht eine Bewegung, da drüben in den Büschen auf der anderen Seite? Dieser Schatten war doch gewiß kein Baum, sondern die hohe, aufrechte Gestalt eines Mannes?

»Harihn?« Rabe machte einen Schritt nach vorn. Zu spät hörte sie das Rascheln hinter sich, ein Rascheln zu beiden Seiten. Bevor sie noch Zeit hatte, die Flucht zu ergreifen, prallte ein schweres Gewicht auf sie, preßte sie zu Boden und drückte ihr Gesicht in den Schnee und die heruntergefallenen Piniennadeln. Dann waren plötzlich viele Hände auf ihr, Hände, die nach ihren Flügeln und ihren Gliedmaßen griffen. Obwohl sie sich heftig wehrte, mit flatternden Hügelspitzen und krallenscharfen Fingernägeln um sich schlug, war sie doch hoffnungslos unterlegen. Bevor sie noch um Hilfe schreien konnte, packte eine Hand ihren Kiefer, stopfte ihr einen dicken Knebel aus Stoff in den Mund und band ihn mit einem anderen Stoffstück fest. Dann wurden ihr Hügel, Handgelenke und Knöchel fest mit Lederriemen zusammengebunden – aber noch grausamer war die Hand der Furcht, die ihr Herz umklammerte. Harihn, dachte sie verzweifelt. Wo bist du?

Rabe fand es nur allzubald heraus. Ein mit einem Stiefel bekleideter Fuß rollte sie auf den Rücken, und durch tränengefüllte Augen blickte sie empor in das Gesicht ihres einstmaligen Geliebten. »Nein!« Das Wort war nur ein gedämpftes Flüstern durch Rabes Knebel – es war mehr ihr Geist, der vor Zorn und Angst aufgeschrien hatte. Der Prinz hatte sie betrogen!

»Ah …« Das Herz des geflügelten Mädchens krampfte sich bei dem Klang der trockenen, vertrauten Stimme zusammen, die schon seit so langer Zeit ihre Alpträume heimgesucht hatte. Eingehüllt in das staubige Schwarz seiner Schwingen, trat der Hohepriester Schwarzkralle hinter dem Prinzen hervor. »Endlich mein!« Er kniete neben ihr nieder, und Rabe schloß bei seiner Berührung erzitternd die Augen.

»Mach voran, Schwarzkralle! Du kannst dein Spielzeug später genießen.« Harihns Stimme war hart und kalt. »Meine Seite unseres Handels habe ich erfüllt, aber wir müssen die anderen haben, bevor deine Beute in Sicherheit ist.«

»Achte auf deinen Ton, wenn du den neuen König des Himmelsvolkes ansprichst!« fuhr Schwarzkralle ihn schroff an. Dennoch gehorchte er und stand augenblicklich auf. Rabe versteifte sich bei seinen Worten. König? Aber das konnte doch nur bedeuten, daß ihre Mutter tot war! Als der Klang der sich von der Lichtung entfernenden Schritte langsam verhallte, schloß Rabe in tiefster Verzweiflung die Augen und begann zu schluchzen.

Es kostete die Magusch ungeheure Anstrengung, sich über die wacklige Leiter aufs Dach zu ziehen. Als sie dann Anvar sah, der sich in der windgeschützten Ecke einer zerfallenen Schießscharte zusammenkauerte, hätte sie um ein Haar den Mut verloren. Aber er blickte auf, denn er war sich wie immer ihrer Gegenwart bewußt, und der Anblick seines traurigen, müden Gesichts stärkte ihre Entschlossenheit. Sie hockte sich neben ihn, aber ihre Worte gingen in dem Heulen des Windes unter. »Komm hinein, Anvar!« rief sie. »Du frierst dich noch zu Tode!«

Die obere Kammer des Turms besaß einen Kamin und einige wenige, von Spinnweben überzogene alte Möbelstücke mit merkwürdigen Mustern, die die Geflügelten benutzt haben mußten, als sie hier Wache gehalten hatten. Anvar schmetterte einen hohen Hocker gegen die Wand und warf die Trümmer in die Feuerstelle, wo er sie mit einem zischenden Feuerball entzündete. Als die Flammen aufloderten, machte er sich über die Überreste eines spindeldürren Tisches her, und Aurian trat, als sie seinen grimmigen Gesichtsausdruck bemerkte, unwillkürlich einen Schritt zurück. Seine ersten Worte waren eine vollkommene Überraschung für sie.