»Aurian, du bist wohl nicht ganz bei Trost, daß du diese halb verrottete Leiter benutzt hast! Wenn du gestürzt wärst, hättest du das Kind verlieren können!« Dann schien er sich plötzlich seiner Worte bewußt zu werden und wandte sich von ihr ab. »Nicht, daß es mich etwas anginge«, murmelte er, und seine Stimme war voller Bitterkeit.
Aurian holte tief Luft und legte ihm eine Hand auf den Arm. »Es geht dich sehr wohl etwas an, Anvar«, sagte sie sanft. »Das heißt – wenn du es immer noch möchtest.«
Einen Augenblick lang stand er einfach reglos da. Dann drehte er sich um und sah ihr ins Gesicht. »Wie meinst du das?« fragte er.
Aurian schluckte, und ihre Kehle war plötzlich trocken. »Ich hätte schon früher etwas sagen sollen – vielleicht nach der Wüste oder ganz gewiß nach der Lawine heute. Aber ich hatte solche Angst.« Ihre Stimme begann zu zittern. »Oh, verflucht noch mal!« Sie schniefte und fuhr sich mit dem Ärmel über ihre Nase. Dann versuchte sie, sich von ihm zu lösen, aber er hielt sie fest.
»Weißt du, ich glaube, diese abscheuliche Angewohnheit werde ich dir wohl nie mehr austreiben!« Aller Zorn war aus Anvars Gesicht gewichen. Er führte sie ans Feuer und half ihr, sich auf dem Boden neben dem Kamin niederzusetzen. ‘ Dann nahm er die Trümmer des zerbrochenen Tisches und legte sie in die ersterbenden Flammen, während Aurian weitersprach, bevor sie den Mut dazu verlor. »Ich habe dich glauben lassen, daß ich dich nicht liebte, aber das war eine Lüge. Ich habe auch mich selbst belogen. Ich hatte Angst, denn nach Forrals Tod wollte ich solchen Schmerz niemals mehr erleben! Und wir sind in so großer Gefahr …«
»Und wo liegt das Problem? Du hast Angst, ich könnte auch getötet werden? Oh, mein Liebling …« Anvar legte seine Arme um sie und hielt sie ganz fest an sich gedrückt, bis Aurian endlich seine Umarmung voller Glück erwiderte. Sie genoß seine Nähe und seine Berührung und spürte das Rasen seines Herzens, das zu dem freudigen Schlagen ihres eigenen paßte. Aber da war noch etwas, etwas sehr Wichtiges, das sie bisher ungesagt gelassen hatte.
Sie hob ihr Gesicht von Anvars Schulter, um ihn anzusehen. »Ich kann Forral nicht vergessen, weißt du«, sagte sie bleich. »Selbst wenn ich es könnte, würde ich es nicht wollen.«
Anvar schüttelte den Kopf. »Ich erwarte nicht von dir, daß du ihn vergißt, mein Liebstes, und genausowenig werde ich ihn je vergessen. Forral war mir ein wahrer Freund, und ich halte seine Erinnerung in Ehren. Die Dinge haben sich so schnell entwickelt nach seinem Tod, und mir wäre es lieber, wenn du mit deinem ganzen Herzen zu mir kämst, als geplagt von Zweifeln.«
Aurian streckte die Hand aus, um sein Gesicht zu berühren. »Ich habe genug Zweifel gehabt.« Sie ließ ihre Handflächen über seine breiten Schultern gleiten, schmiegte sich eng an ihn – und versteifte sich, als ein schnarrendes Geräusch über ihrem Kopf das zarte Gewebe von Liebe und Sehnsucht, das Anvar und sie eingehüllt hatte, plötzlich zerriß.
»Anvar – hast du das gehört?«
Anvars Augen waren vor Schreck geweitet. »Es ist auf dem Dach …«
Die Falltür in der Decke flog auf, und seine Schneelast klatschte donnernd auf den Boden, während gleichzeitig ein Strom winterkalter Luft die schwache Wärme des Zimmers durchströmte. Fluchend quälte Aurian sich auf, als ein Paar Beine auf der zerbrechlichen Leiter erschien. Augenblicklich griff sie nach dem Schwert, das immer an ihrer Seite hing, und schwang es mit aller Kraft in einem weiten Bogen, bis ihre Handgelenke den Aufprall spürten, mit dem sich die Klinge durch Fleisch und Holz in Knochen hineinbohrte. Die Leiter splitterte, und der Mann stürzte schreiend zu Boden; ein Bein war am Knie abgetrennt, aus dem anderen spritzte Blut. Aurian sprang unbeholfen zurück und verfluchte ihren hinderlichen Bauch, aber Anvar gab ihr Halt, so daß sie das Gleichgewicht wiederfand.
»Geflügelte!« rief Anvar, der sie hastig vor den heftig flatternden Flügelspitzen ihres sich krümmenden Opfers in Sicherheit brachte. Eine weitere Gestalt fiel durch die Öffnung, und Hügel breiteten sich aus, die den engen Raum in dem Zimmer beinahe ganz ausfüllten. Aurian versuchte, sich auf den neuen Feind zu stürzen, bevor er sich erholen konnte, aber dieser hatte sein Schwert bereits in der Hand und trieb sie mühelos zurück, denn er hatte erkannt, daß die Notwendigkeit, ihr ungeborenes Kind zu schützen, sie behinderte. Unerbittlich drängte er vorwärts und machte unter der Falltür Platz, so daß weitere Feinde eintreten konnten.
Aus den Augenwinkeln sah Aurian Anvar, wie er unter den aufblitzenden Schwertern hinwegtauchte, um nach der Waffe des ersten gefallenen Kriegers zu greifen, aber sie mußte sich auf ihren eigenen Gegner konzentrieren – bis ein Schmerzensschrei ihr das Blut in den Adern erstarren ließ.
Da wandte sie die Augen von ihrem Angreifer ab, um einen Blick auf Anvar zu erhaschen, der gerade seine blutige Klinge aus der Brust des nächsten Mannes zog, der durch die Falltür gesprungen war. Aber schon folgte ein weiterer und trat die Leiche seines Vorgängers beiseite. Dann ließ sich hinter ihm noch ein Geflügelter durch die Öffnung ins Zimmer fallen. Ihr Gegner, der ihre Unaufmerksamkeit gespürt hatte, machte einen jähen Schritt nach vorn und hätte um ein Haar ihre Deckung durchbrochen. Seltsamerweise verspürte Aurian keine Angst, sondern nur eine Woge des Zorns darüber, daß er sie davon abhielt, Anvar zu Hilfe zu eilen. Sie riß ihre Klinge mit einer flinken Kreisbewegung, die Forral ihr beigebracht hatte, zur Seite, und das Schwert ihres Feindes flog durch die Luft, so daß sie ihm mit einem letzten Hieb die Kehle durchschneiden konnte – was sie sofort bedauerte, als ihr sein Blut ins Gesicht spritzte. Beherzt löste sie jedoch eine Hand von ihrem Schwert, um sich die Augen abzuwischen, obwohl der metallische Geruch des Blutes sie würgen ließ. Dann sprang sie über die Leiche hinweg, kam aber ruckartig zum Stehen, als sich die Hand des Mannes im Todeskampf um ihren Knöchel klammerte und ihren Fuß mit einem eisernen Griff festhielt.
Anvar kämpfte mit zwei Gegnern, die ihn gnadenlos attackierten und ihn in die tödliche Falle der Ecke zwischen dem Kaminsims und der Wand trieben. Da sie sich weder befreien konnte noch auch nur einen Augenblick Zeit verschwenden durfte, riß Aurian mit der linken Hand ein Messer aus ihrem Ärmel, warf es – mit der tödlichen Genauigkeit, die sie von Parric gelernt hatte – und hörte ein gequältes Aufstöhnen, als es sich mit seiner ganzen Schneide in den Rücken seines Opfers bohrte, genau zwischen die großen Schwingen. Der andere Krieger sah sich um, als sein Kamerad zu Boden fiel – ein fataler Fehler. Schreiend krümmte er sich zusammen und umklammerte die blutigen Windungen seiner Eingeweide, die Anvars Klinge ihm aus dem Leib gerissen hatte.
Aurian durchtrennte den Arm, der sie festhielt, mit einem einzigen Streich ihres Schwertes. Als die Hand zu Boden fiel, stürzte sie durchs Zimmer und zog Anvar mit sich zur Tür, während immer mehr Feinde sich durch die Falltür im Dach zu ihnen hinunterließen. Irgend jemand hieb mit seinem Schwert auf das Loch ein, um die Öffnung zu vergrößern. Die kleine Kammer war plötzlich zum Bersten voll mit Kriegern, und die beiden Magusch sahen sich gezwungen, über die Leichen der Gefallenen zurückzuweichen, wobei sie den Angreifern einen verzweifelten Kampf lieferten. Aber als sie die Tür erreichten, verwandelte sich Aurians Erleichterung in Entsetzen, als sie aus dem Raum unter sich ebenfalls Kampfgeräusche hörte. Sie waren umzingelt!