Trauer durchbohrte Schiannaths Herz wie ein Messer. Die Xandim kannten kein Todesurteil für die Mitglieder ihrer eigenen Rasse; dieses Schicksal war Fremden und Spionen vorbehalten. Statt dessen hatten sie etwas Schlimmeres getan – sie hatten ihm seinen Namen genommen und ihn mit Flüchen und Steinen fortgejagt. Das Windauge hatte Iscalda dafür, daß sie Phalias getrotzt hatte, in ihre Andergestalt verwandelt und in diesem Zustand für alle Zeiten eingesperrt. Jetzt war sie nur noch ein gewöhnliches Pferd mit den Bedürfnissen und Instinkten – und dem Verstand – eines Tieres.
Die Kehle schnürte sich ihm mit nicht geweinten Tränen zu, und der Gesetzlose blickte über seine Schulter hinweg zu der weißen Stute und wünschte, er könnte irgendwie von seinen schmerzlichen Erinnerungen erlöst werden. Es hatte Zeiten gegeben, da hatte er in seiner Verzweiflung daran gedacht, das Leiden für sie beide zu beenden – vielleicht mit seiner Klinge oder einfach, indem er Iscalda über einen Felsvorsprung ritt. Aber er hatte nie den Mut dazu gefunden. Immer war noch dieser winzige, unbeirrbare Funke Hoffnung in den Hefen seiner Seele gewesen, daß er eines Tages doch noch eine Möglichkeit finden würde, sie zurückzuverwandeln.
Die Stute machte tief in ihrer Kehle ein leises, schmatzendes Geräusch und ließ ihre Nase in seine Handfläche sinken, um sanft an seinen Fingern zu lecken. Schiannath seufzte. »Ich weiß, Iscalda – ich habe auch Hunger. Komm, es ist Zeit, daß wir gehen.« Er besaß ganz in der Nähe noch ein anderes Versteck; eine kleine Höhle hoch oben in den Wänden des Passes. Die Höhle war eng und ungemütlich, aber er hatte dort einen kleinen Essensvorrat für Notfälle angelegt, zu dem auch etwas getrocknetes Gras für Iscalda gehörte, das er vor langer Zeit während des milderen Wetters für sie gesammelt hatte.
Schiannath betrachtete noch ein letztes Mal den Turm und runzelte finster die Stirn, als er die Rauchschwaden sah, die aus dem halb zerfallenen Rauchfang drangen. Fluch über sie alle! Wer waren diese Leute? Warum waren sie hier? Er zögerte. Wenn sie keine Xandim waren, dann konnten sie ihn nicht als Gesetzlosen kennen. Wenn er behauptete, ein vom Weg abgekommener Reisender zu sein, würden sie ihn gewiß aufnehmen!
Eine Hoffnung, die fast schmerzhafte Ausmaße annahm, stieg in Schiannaths Brust auf. Nach Monaten, in denen Iscalda seine einzige Gesellschaft gewesen war, überwältigte ihn der plötzliche Hunger nach Menschen, nach freundlichen Gesichtern und dem Klang von menschlichen Stimmen und Gelächter. Eine verzweifelte Sehnsucht durchströmte ihn wie eine gewaltige Flut. Sein mageres, wettergegerbtes Gesicht verzog sich zu dem ersten Lächeln seit Monaten, als er nach dem Zaumzeug der Stute griff und aus seinem Versteck hervortrat.
Ein neues Geräusch ließ ihn sich hastig wieder zurückziehen wie ein gejagtes Tier, das sich in seiner Höhle verkroch. Mit den geschärften Sinnen eines wilden Geschöpfes hörte er das Geräusch von Flügeln, wie sie durch das Tal auf den Paß zuflatterten. Schiannath kauerte sich hinter den Felsbrocken und zog die Stute mit sich. Er zitterte, aber diesmal nicht vor Kälte. War er plötzlich ein Windauge geworden, daß der Sturm furchtbare Vorahnungen zu ihm hinüberwehte? Dann, als er zwischen den starren Baumstämmen hindurchspähte, die den Turm umringten, sah der Gesetzlose geflügelte Gestalten vom Himmel herabstürzen. Entsetzt hielt er den Atem an. Bei den Feldern des Paradieses, was taten diese abscheulichen Kreaturen hier?
Plötzlich löste sich zu Schiannaths Erstaunen eine Gruppe menschlicher Krieger – die gut versteckt gewesen sein mußten, um seiner sorgsamen Beobachtung zu entgehen – aus dem Pinienwald. Für kurze Zeit waren sie deutlich zu sehen, als sie auf den Turm zuliefen. Schiannath hörte ein Gemurmel von Stimmen in einer harten, primitiven Sprache und versteifte sich vor Zorn. Diese verfluchten Khazalim! Was hatten sie hier zu suchen? Mit einem geflüsterten Fluch zog er sich hinter die Felsen zurück, während die Geflügelten über dem Wäldchen emporschwebten und dann zwischen den Zweigen verschwanden.
Sein gesunder Menschenverstand sagte dem Gesetzlosen, daß es an der Zeit war, diesen Ort zu verlassen. Wenn die Eindringlinge Späher ausschickten … Und doch blieb er stehen, angezogen von Neugier und dem unwiderstehlichen Drang, in der Nähe von Menschen zu sein – irgendwelcher Menschen. Iscalda würde ihn vor jeder sich nähernden Gefahr warnen, und bei seiner Kenntnis des hiesigen Gebietes sollte es ihm nicht schwerfallen, in dem dichten Schnee jedem Verfolger zu entkommen. Also blieb er stehen und sah zu, wie geflügelte Krieger auf dem Dach des Turms landeten und wie diese Khazalimkerle, die mit den Geflügelten verbündet zu sein schienen, die Tür attackierten. Es war ein Hinterhalt! Wer immer auch im Turm sein mochte, Schiannath stellte plötzlich fest, daß er tiefes Mitleid für die armen Geschöpfe verspürte.
Yazour erwachte plötzlich, aus dem Schlaf gerissen durch irgendwelche schwachen, nicht auszumachenden Geräusche. Er öffnete die Augen und sah sich in der seltsam verlassenen Kammer um. Shia streckte sich nach Katzenmanier an dem wärmsten Ort im Raum aus, dicht neben dem Feuer. Ganz in ihrer Nähe lag Bohan, der seinen Kopf auf dem Kamin wie auf einem Kissen abstützte, und Nereni und Eliizar lagen zusammengerollt in einem Nest aus Decken. Aber wo waren die anderen? Er hielt erschrocken den Atem an, bis ein leises Murmeln von Stimmen aus dem Stockwerk über ihm verriet, wo Aurian und Anvar steckten. Yazour lächelte. Sie nutzten eine der seltenen Gelegenheiten, allein zu sein, und wer konnte ihnen einen Vorwurf daraus machen? Damit war nur noch Rabe übrig – aber warum sollte sie verschwinden? Er erhob sich, um der Sache auf den Grund zu gehen, und gerade in diesem Augenblick flog die Tür des Zimmers auf, und Harihns Männer stürzten ins Zimmer.
Yazour sprang auf die Füße und zog sein Schwert. »Feinde!« brüllte er. »Wacht auf!« Sein Herz krampfte sich vor Zorn zusammen angesichts des Betrugs, denn er erkannte jedes einzelne Gesicht seiner Angreifer. Bevor er den Dienst des Prinzen verlassen hatte, waren diese Männer treue Gefährten gewesen, die unter seinem Kommando gestanden hatten. Jetzt war er ihr Feind. Yazour wurde das Herz schwer. Wenn Harihn ihn gefangennahm, konnte er keine Gnade von dem Prinzen erwarten. Dann stürzten sich seine Feinde auf ihn, und es blieb ihm keine Zeit mehr für weitere Gedanken.
Shia sprang mit einem lauten Fauchen auf, als die Tür aufgerissen wurde. Die beiden ersten Männer fielen ihren Klauen zum Opfer, bevor Yazour noch sein Schwert ziehen konnte, und dann waren ihre Kameraden neben ihr und verteidigten sich gegen die Übermacht der Angreifer. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Eliizar zu Boden stürzte, und sie machte einen Schritt zurück, um ihn zu verteidigen – aber Bohan war bereits da und kämpfte mit der Kraft von drei Männern. Nereni rannte schreiend zu ihrem Mann, um ihm zu helfen, und binnen weniger Sekunden war Eliizar wieder auf den Beinen und kämpfte mit einer Hand, während er die andere auf seine blutende Seite preßte. Nereni ihrerseits schleuderte mit wilden Flüchen brennende Zweige aus dem Feuer in die Schar von Harihns Männern, die sich noch immer mit aller Gewalt durch die Tür zwängten.
Die große Katze schlug mit den Klauen wild um sich, wobei ihre Bewegungen von tödlicher Präzision waren, so daß sie ihren Feinden grauenvolle Verletzungen beibrachte – aber es waren so viele! Voller Verzweiflung blickte sie über ihre Schulter hinweg zur Treppe. Wo waren Aurian und Anvar? Warum kamen ihnen die Magusch nicht zu Hilfe? Als sie sich in ihren Gedanken mit Aurian verband, sah sie die Szene, die sich oben abspielte, mit den Augen ihrer Freundin. Geflügelte! Aurian und Anvar gefangen. Heiße Furcht durchströmte Shia; was würde mit ihren Kameraden geschehen? Sie kämpfte sich bereits ihren Weg zur Treppe frei, als sie Aurians Stimme in ihren Gedanken hörte, die ihr befahl, wegzulaufen.
»Hast du den Verstand verloren? Ich werde dich nicht im Stich lassen!«