Aurians Gesicht verzerrte sich vor Wut, während sie gleichzeitig die aufkommenden Tränen niederkämpfte. Noch nie hatte sie Anvar so eingeschüchtert und mutlos gesehen. »Na gut«, flüsterte sie, »wenn das meine einzige Möglichkeit ist, ihn zu retten.«
»Nein!« Mit einem Aufblitzen von Panik erinnerte sich Anvar an jenen Tag in seiner Jugend, als Miathan ihm die Macht entrissen hatte, von der er damals nicht einmal wußte, daß er sie besaß – er erinnerte sich an die Qualen, die Verzweiflung, das überwältigende Gefühl tiefster Hilflosigkeit. Es durfte nicht wieder passieren – lieber würde er sterben.
Dann fing er das verstockte Glitzern in Aurians Augen auf und verfluchte sich für seine Dummheit. Sie würde so etwas natürlich niemals tun. Durcheinandergebracht von Schmerz und Angst, hatte er erst langsam begriffen, daß sie ein verzweifeltes Spiel spielte: Sie spielte um Zeit, damit sie sie beide retten konnte. Einen Augenblick lang verschwand Anvars Schmerz hinter glühender Liebe und Stolz. Trotz des furchtbaren Schocks über das, was sie über ihr Kind erfahren hatte, hatte sie einen kühlen Kopf behalten. Er betete, daß Miathan sich täuschen ließ.
»Welche Pläne hast du mit uns, Miathan?« fragte Aurian mit einer gedämpften, hoffnungslosen Stimme, und Anvar wußte, daß sie versuchte, die Aufmerksamkeit des Erzmagusch von ihm abzulenken.
Harihns dunkle Augen glitzerten. »Anvar wird anderenorts gefangengehalten werden, ein Faustpfand zur Sicherstellung deiner Mitarbeit. Ich hoffe, er wird nicht noch einmal so dumm sein zu versuchen, seinem Leben ein Ende zu bereiten, denn wenn er beim nächsten Mal Erfolg damit haben sollte, werde ich dich für seine Torheit zahlen lassen – auf eine Art und Weise, die du dir nicht einmal vorstellen kannst.«
Anvar schauderte. Miathan hätte keine bessere Möglichkeit finden können, sich seiner Willfährigkeit zu versichern.
»Und was dich betrifft«, fuhr der Erzmagusch fort, »du wirst, sobald dein Kind geboren ist und ich mich seiner entledigt habe, per Schiff nach Nexis zurückreisen. Wenn du dort bist, wirst du dich mir unterwerfen oder zusehen, wie Anvar vor deinen Augen zerstückelt wird.« Mit diesen Worten bückte er sich rasch über Aurian, ergriff ihr Gewand und riß es entzwei. Nackte Lust starrte aus Harihns geborgten Zügen, und eine der Wachen kicherte höhnisch. »Ich kann mir wirklich nicht vorstellen, warum du sie willst, Anvar«, spottete Miathan, »häßlich und angeschwollen mit dem Balg eines anderen Mannes! Ich persönlich zieh es vor zu warten, bis sie in einem besseren Zustand ist, bevor ich sie benutze. Obwohl ich sie dir hinterher vielleicht wieder zurückgebe – falls du sie dann noch willst.« Mit berechnender Überlegung hielt er inne. »Aber warum solltest du nicht? Du hast ja wohl nichts gegen benutzte Waren. Schließlich warst du nicht zu stolz, dich über das herzumachen, was Forral übriggelassen hat.«
Anvars Herz brannte beim Anblick von Aurian, die dort kniete, erschrocken und beschämt. Während er die Tränen des Zorns zurückdrängte, funkelte er Miathan kalt an. »Das ist ja wohl die Stimme der Eifersucht«, höhnte er. »Sie war zu stolz, dich zu nehmen, nicht wahr? Tu dein Schlimmstes, aber diese Lady wirst du niemals besudeln, denn sie steht weit jenseits der Reichweite von deinesgleichen. Benutzte Waren? Du machst dir etwas vor. Wenn du Aurian nimmst, was sie dir niemals freiwillig geben würde, dann bist du derjenige, der beschämt wird, nicht sie. Du kannst vielleicht ihren Körper nehmen, aber ihren tapferen Geist wirst du niemals brechen, ebensowenig wie du je ihr Herz berühren kannst. Was du auch tust, du hast bereits verloren.«
Der Erzmagusch stand da, als hätten Anvars Worte ihn zu Stein verwandelt, aber eben diese Worte gaben Aurian ihren zerschmetterten Mut zurück. Sie wandte sich von Miathan ab, hob stolz das Kinn und sprach direkt mit Anvar, als wären sie allein im Zimmer. »Mein Liebster«, sagte sie weich. »Solange ich dich habe, habe ich auch Hoffnung.«
Anvar sah sie an, und sein ganzes Herz lag in seinen Augen. »Du wirst mich immer haben, das verspreche ich.«
Miathan stieß einen abscheulichen Ruch aus und machte den Wachen ein Zeichen. Einer von ihnen zog sein Schwert und versetzte Anvar einen harten Schlag mit dem Griff. Lautlos brach er auf dem Boden zusammen, als seine Wächter ihren Griff lockerten.
»Du hast gesagt, ihm würde nichts geschehen!« rief Aurian.
»Habe ich das?« Harihns Gesicht wurde von Miathans häßlichem Stirnrunzeln verunstaltet, und Aurian sah heiße Eifersucht in seinen Augen brennen. »Daran kann ich mich nicht mehr erinnern. Anvars weitere Gesundheit hängt ganz und gar von deinem zukünftigen Verhalten mir gegenüber ab.« Er lachte ihr höhnisch ins Gesicht und liebkoste ihren Körper. Obwohl seine Berührung ihr Übelkeit verursachte, ertrug Aurian sie, ohne eine Regung zu zeigen, und konzentrierte sich statt dessen auf Anvars Worte.
Miathan, der so um sein Vergnügen betrogen wurde, hörte mit seiner Quälerei auf und bombardierte sie mit wütenden Schlägen, bis sie vor Schmerzen schluchzte. »Wenn ich zurückkehre, erwarte ich, dich in etwas entgegenkommenderer Stimmung zu finden – um Anvars willen«, fuhr er sie an und stolzierte aus dem Zimmer, gefolgt von den Männern, die Anvars bewußtlosen Körper mit sich trugen. Aurians Wachen warfen sie, gefesselt wie sie war, zu Boden und ließen sie neben dem verlöschenden Feuer auf dem kalten Boden liegen, allein und verzweifelt.
Yazour taumelte durch den Paß, geschwächt und entkräftet von seinen Wunden, während der Wind und der dahintreibende Schnee ihn gnadenlos durchschüttelten. Zu allem Übel war er sich noch nicht einmal mehr sicher, ob er immer noch in die richtige Richtung lief, weg von dem Turm. Blut strömte von dem Pfeil herab, der seine linke Schulter durchbohrt hatte, aber wunderbarerweise war der Schmerz einem Gefühl der Taubheit gewichen. Auch der Schwertschnitt in seinem Oberschenkel, den er, beinahe ohne es zu bemerken, in der Hitze des Kampfes erhalten hatte, tat nicht mehr weh. Das war ein Segen, den ihm der Schnee spendete! Der freundliche Schnee, der ihm seine Schmerzen nahm.
Was tue ich eigentlich hier draußen im Schnee? Warum kann ich mich an nichts erinnern? fragte er sich. Es schien Yazour, als gäbe es da etwas, an das er sich erinnern sollte … Irgendeine Gefahr … Lief er nicht vor irgend jemandem oder irgend etwas davon? Aber warum sollte er sich Sorgen machen? Der wunderbare Schnee würde sich schon um ihn kümmern. Er lag überall um ihn herum, wie eine dicke, weiche Decke. Er würde ihn verbergen, so wie die Decken in seiner Kindheit ihn verborgen hatten, wenn Alpträume ihn aus den dunklen Ecken seines Zimmers ansprangen. Natürlich! Das war die Antwort. Er würde sich hier verstecken und in dem weichen, warmen Schnee Ruhe finden … Mit diesem Gedanken sank der verwundete Krieger auf die Knie, fiel nach vorn und überließ sich dankbar der Dunkelheit und der tödlichen Umarmung des Winters.
Miathan stürmte die Treppe hinunter und genoß die disziplinierte Kraft des jugendlichen Körpers des Prinzen. Er lächelte und verbannte Anvars beunruhigende Worte aus seinen Gedanken. Es würde nicht lange dauern, dann war Aurian das Ungeheuer los, das sie unter dem Herzen trug – dann würde er sie bekommen mit diesem wunderbaren, neuen Körper, der solches Vergnügen versprach …
Als der Erzmagusch die untere Kammer erreichte, konnten nicht einmal die furchtbaren Szenen des Blutbades, das sich dort abgespielt hatte, seine Freude dämpfen, obwohl er ganz weit hinten in den Tiefen seines alles beherrschenden Verstandes einen schwachen Protest von Harihn spürte. Die große Katze, so schien es, hatte sich als furchtbarer Gegner erwiesen. Der Raum glich einem Schlachtfeld, und der Boden war mit Blut und Eingeweiden bedeckt. Einige Männer zerrten die Leichen der Gefallenen durch die Tür ins Freie oder kümmerten sich um die stöhnenden Verwundeten. Miathan zuckte mit den Schultern. Solange nur genug Leute übrigblieben, um seine Gefangenen zu bewachen, kümmerten ihn die Leichen dieser Sterblichen nicht im geringsten.