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Sobald sie sich abgetrocknet hatte und in ihr Zimmer zurückgekehrt war, machte sie sich daran, ihr in Unordnung geratenes Gefieder geduldig zu putzen, wobei sie die zerzausten Federn mit ihren zu Klauen gebogenen Fingernägeln zurechtzog und immer wieder innehielt, um noch einen Schluck Wein zu trinken. Es war lange her, seit sie zum letzten Mal etwas gegessen hatte, und das ungewohnte Getränk tat ein übriges, so daß es ihr bald schwindlig wurde. Das Gefühl ängstigte sie zuerst, aber dann gewöhnte sie sich schnell daran, und nach einer Weile begann sie, es zu genießen. Ein Plan kam ihr in den Sinn, während sie sich weiterputzte; noch kein ganz vollständiger Plan, aber er bot ihr eine leise Hoffnung, daß sie den Aufmerksamkeiten Schwarzkralles vielleicht doch noch entkommen könnte. Der Sitte nach vermählten die Himmelsleute sich nur einmal in ihrem Leben und dann für immer; keiner von ihnen würde jemanden berühren, der bereits einem anderen gehört hatte.

So tief war sie in Gedanken versunken, daß sie erst gar nicht reagierte, als Schwarzkralle eintrat. Dann jedoch drehte sie sich mit pochendem Herzen zu ihm um. Der Hohepriester sagte nichts. Er stand einfach nur in der Tür und ließ seine gierigen Blicke über ihren Körper gleiten. Hinter ihm standen zwei glotzäugige Wachen, Kriegerpriester in der Livree des Tempels. Zeugen, dachte Rabe. Hervorragend. Ohne den Wein hätte sie es niemals fertiggebracht. Obwohl Rabe, als sie seine Augen auf sich spürte, eine Gänsehaut bekam und das Blut ihr vor Schande zu Kopf stieg, machte sie sich nicht die Mühe, ihre Nacktheit zu verbergen. Sie zwang sich, den Kopf zu heben und dem Hohenpriester unverfroren in die Augen zu sehen, obwohl es das schwerste war, was sie je in ihrem Leben getan hatte.

»Du kommst zu spät, Schwarzkralle«, fauchte das geflügelte Mädchen. »Das heißt, es sei denn, du willst dich mit einer Frau beschmutzen, die bereits besudelt ist. Dein Mitverschwörer hat dich hintergangen, Hoherpriester. Der Mensch hat mich bereits gehabt – und nicht nur einmal, sondern viele Male.« Rabe hörte das entsetzte Aufkeuchen der Tempelwächter und zwang sich, Schwarzkralle ins Gesicht zu lachen.

Der Hohepriester fiel in ihr Gelächter ein, und Rabe wußte, daß sie verloren hatte. »Das hat Harihn mir erzählt«, kicherte Schwarzkralle mit einem wissenden Grinsen. »Er sagt, du hättest dich als sehr begabte Schülerin erwiesen, meine kleine Prinzessin, und er hofft, er hätte dir genug beigebracht, damit du mich in den langen, kalten Nächten von Aerillia unterhalten kannst.«

Mit diesen Worten erstickte er Rabes Gelächter so wirksam, als hätte er ihr die Kehle durchgeschnitten.

»Du Närrin«, höhnte Schwarzkralle. »Hättest du einen geflügelten Mann erwähnt, wäre es vielleicht anders gewesen, obwohl ich mich, da der Thron auf dem Spiel steht, auch dann noch hätte überwinden können, dich zu nehmen. Aber so, wie die Dinge liegen – welchen Unterschied macht schon ein Mensch? Sie sind nicht von unserer Rasse. Du hättest dich genausogut mit einem Bergschaf besudeln können – die Wirkung wäre die gleiche gewesen.«

Er trat ins Zimmer und schenkte sich einen Becher Wein ein, wobei er einen verwunderten Blick auf die halb geleerte Flasche warf. »Auf Schande«, verspottete er sie, »auf Schande, Lüsternheit und Trunksucht. Nehmen denn die Laster, die du bei diesen erdgebundenen, kriechenden Insekten gelernt hast, gar kein Ende mehr?« Er zuckte mit den Schultern. »Egal. In der Hauptsache ist es deine Hand, die ich begehre – obwohl ich mich in angemessener Zeit auch deines Körpers bedienen werde. Die Verbindung mit der Thronerbin wird meinen Anspruch auf die Königswürde über alle Zweifel hinaus bekräftigen – und nach der Tradition mußt du als Jungfrau zu mir kommen, zumindest in gewissem Sinne.« Er stieß ein abscheuliches Kichern aus. »Menschen, wie ich bereits sagte, können da kaum mitgezählt werden. Und da unsere Verbindung erst stattfinden kann, wenn der Mond zugenommen und wieder abgenommen hat – denn das ist die Zeitspanne, die der Trauerzeit für die jüngst beklagte Königin gewidmet ist –, muß ich mich bis dahin zurückhalten, aber die Erwartung des Kommenden hat ja ihre eigenen Freuden.«

Während er sprach, spürte Rabe ein dumpfes Entsetzen in sich aufsteigen, aber als sie hörte, wie Schwarzkralle das Gedenken an ihre Mutter in den Schmutz zog, kochte sie vor Zorn, und plötzlich war sie jenseits aller Selbstbeherrschung – und jenseits aller Klugheit. »Du widerliche Kreatur!« Sie schleuderte dem Hohenpriester ihren Wein mitsamt dem Kelch ins Gesicht. »Du wirst niemals auch nur einen Finger an mich legen, nicht solange ich lebe, das schwöre ich. Und ich werde eines Tages erleben, wie du für alle Ewigkeiten in Qualen verrottest! Nicht alle meine Leute sind dir ergeben, Schwarzkralle – verräterischer, mordender Emporkömmling-, glaubst du denn, du kannst mich mit deinen Gittern und deinen Wachen aufhalten? Ich werde mich an dir rächen, sobald – «

Sein Schlag schleuderte das geflügelte Mädchen quer durchs Zimmer. »Törichtes, irregeleitetes Kind.« Schwarzkralle stand über ihr und schüttelte mißbilligend den Kopf. »Hast du denn geglaubt, ich würde dir die Chance geben, jemals wieder zu entfliehen und einen Aufstand anzuführen?« Seine Augen waren mitleidlos und hart. Rabe schrak vor ihm zurück, und ein Schaudern furchtbarer Vorahnungen durchlief sie. Der Hohepriester trieb sie gnadenlos in die Enge und spielte mit seinem Opfer, um dessen Leiden noch zu verlängern. »Es gibt gewisse Gesetze bei den Geflügelten, meine Prinzessin, die nicht einmal du umgehen kannst. Welcher von deinen Leuten würde schon einer verkrüppelten Königin folgen?«

Er winkte seine Krieger herbei, und zum ersten Mal sah Rabe, daß sie mit schweren Keulen bewaffnet waren. Ihr Herz erstarrte zu Eis. »Nein!« wisperte sie, als sie näher kamen. »Nein …«

Schwarzkralle stand da und sah zu; gelassen nippte er an seinem Wein und genoß den Klang ihrer Schreie. Die schweren Eisenknüppel wurden gehoben, wieder und wieder, und krachten mit ihrem ganzen Gewicht auf die zarten Knochen von Rabes Hügeln nieder.

Nachher konnte sich Anvar kaum noch an seine Reise durch Luft und Wolken hindurch zur Zitadelle des Himmelsvolkes erinnern. Das einzige, das ihm im Gedächtnis haften blieb, waren verschwommene Eindrücke: die nur halb wahrgenommenen Gestalten von vier Geflügelten, die das Netz um ihn herum festhielten, dunkle Silhouetten gegen den düsteren Nachthimmel und das unaufhörliche, rhythmische Schlagen ihrer niemals ermüdenden Schwingen; die Unannehmlichkeiten von Schwindel und Übelkeit, die ihm das hin- und herschwingende Netz verursachte; die schneidende Kälte, die sich in sein Gesicht brannte wie Miathans Klinge es getan hatte. Das Gittermuster der rauhen Netzseile grub sich in seine Haut. Er spürte einen wilden Schmerz von der Brandwunde an seiner Wange und das dumpfe Pochen der Prellungen an den Stellen, an denen er von seinen Wächtern geschlagen und mißhandelt worden war. Aber obwohl der Magusch noch immer halb betäubt war, gaben Furcht, Angst und Verzweiflung seinem Bewußtsein die Kraft, sich immer mehr an die Oberfläche zu kämpfen.

Plötzlich war Anvar, als wache er aus den unerbittlichen Fängen eines furchtbaren Alptraums auf: Dort unter sich, in der Morgendämmerung, lag Aerillia. Einen kurzen Augenblick lang vergaß er alle Gedanken an seine eigene Notlage, denn der erste Anblick der Stadt war absolut atemberaubend. Der größte Teil des Himmels verschwand hinter einer dicken Schicht gewaltiger Wolken, die das Purpurgrau von Schiefer hatten; aber die aufgehende Sonne schlüpfte durch einen schmalen Spalt zwischen der wie mit weißen Reißzähnen versehenen Bergkette und dem düsteren Himmel darüber. Die feine Architektur Aerillias spiegelte die Sonnenstrahlen wider und glitzerte wie ein netzartiges Perlendiadem auf der zerklüfteten Braue des Berggipfels. Als sie etwas näher kamen, nahmen die Türme und Zinnen der Stadt unter Anvars staunendem Blick langsam Gestalt an – unglaublich zarte Gebilde lagen in Stein gehauen vor ihm, einem Stein, der aus der Ferne so zart wie gesponnene Netze aus milchigem Glas schien. Jetzt wußte Anvar auch, woher die schimmernden Steine kamen, aus denen die uralten Gebäude der Akademie gebaut waren. Aber die Anlage von Aerillia war so fremd und dabei von so vollkommener Schönheit … Ungeachtet seiner eigenen Qual und seiner verzweifelten Angst um Aurian betrachtete der junge Magusch die vor ihm liegende Stadt mit Staunen und Bewunderung.