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Der Verlust dieser Macht war wie ein erstickender Dornenstrauch, der sich um die Seele des Hohenpriesters gewunden hatte und mit jedem Jahr größer wurde. Die Erinnerung an die vergangene Größe seiner Rasse bereitete ihm Qualen, statt ihn mit Stolz zu erfüllen. In Schwarzkralles Augen hatte das Himmelsvolk, selbst als es auf seinem Höhepunkt stand, nie seine wahren Möglichkeiten ausgeschöpft. »Warum?« fauchte er. »Warum hatten wir nie die alleinige Kontrolle über unser Element?« Alles, was von Bedeutung war, hatten sie sich teilen müssen, entweder mit diesen kriecherischen Zauberern oder mit den übertrieben gefühlvollen, weichherzigen Meeresleuten, dem selbsternannten Gewissen der Welt. Schwarzkralles gehetzter Verstand hatte niemals innegehalten, um zu bedenken, daß alle Elemente und ihre Herrscher voneinander abhingen; alle waren miteinander verbunden und unterstützten einander in einem komplexen Gewebe des Lebens. Er war jedoch nur mit sich selbst beschäftigt, mit seiner eigenen Rasse – und mit dem, was sie verloren hatte.

In seiner Jugend war der Hohepriester idealistischer gewesen. Der junge Schwarzkralle war in den geheiligten Gemäuern des Gipfeltempels des Yinze aufgewachsen, von unbekannten Eltern einem priesterlichen Leben geweiht – das gewöhnliche Schicksal eines ungewollten Kindes bei den Himmelsleuten. Aber Schwarzkralle war anders gewesen. Die anderen hatten ihr Schicksal hingenommen, waren demütige, gehorsame, kleine Priester geworden, aber er hatte immer mehr gewollt. Hochgeborene Frauen hatten ihn zurückgewiesen – und die anderen, die weniger stolz und eigen waren, hatte er verachtet. Häßlich, kahl und ehrgeizig, unterschätzt von seinen Lehrern und Mentoren, hatte er sich mit den Krallen seinen Weg an die Macht gebahnt, um es ihnen allen eines Tages zurückzuzahlen. Um es so weit zu bringen, hatte er sich im Tempel zu einem Schüler entwickelt, der in allen Dingen zu gut war, um ignoriert werden zu können.

In Wahrheit hatte Schwarzkralle sich in seiner Einsamkeit und Zurückgezogenheit nach der Familie gesehnt, die er verloren hatte, nach der Sicherheit und Geborgenheit, die man ihm verweigert hatte. Da er nichts über seine wirklichen Eltern wußte, nährte er den bestmöglichen Traum – daß er nämlich in Wahrheit ein unehelicher Sproß der königlichen Linie war. Jede Nacht füllten Phantasien seinen Kopf, in denen er die Herrschaft über die Geflügelten ergriff und ihnen ihren früheren Glanz zurückeroberte – und sich selbst zu der hohen Position in der Welt verhalf, die ihm immer verwehrt gewesen war.

Dann hatte er die Schriften entdeckt. Seine Lehrer hatten ihm die Aufgabe zugeteilt, den Tempel zu reinigen, da sie immer noch verzweifelt versuchten, ihm ein wenig von der Saat priesterlicher Demut in seine Seele zu pflanzen. Schwarzkralle, der seines Ehrgeizes wegen eifriger war als die meisten, hatte die geheimen, verborgenen Schriften Incondors entdeckt.

Es hatte offensichtlich so sein sollen. Jener junge, arrogante, verfluchte Magusch, der Mitanstifter der furchtbaren Geschehnisse der Verheerung, dessen bloßer Name unter den Geflügelten tabu war, hatte seine Mitteilungen an die Nachwelt so versteckt, daß Schwarzkralle sie in einer dunklen, verbotenen Nische hinter dem Altar finden mußte. Und nichts, so glaubte der Priester, geschah durch Zufall.

Incondor war furchtlos gewesen und gnadenlos in seinem Ehrgeiz, einsam und außerdem mißverstanden von den geringeren Wesen in seiner Umgebung. Schwarzkralle, der Incondors Hinterlassenschaft Nacht für Nacht in seiner düsteren, kleinen Zelle förmlich verschlang, kam zu der offensichtlichen Schlußfolgerung, daß die Schriften eine Botschaft an ihn waren, die über Jahrhunderte hinweg eigens auf ihn gewartet hatte, und daß er in Wahrheit Incondor war – wiedergeboren, um seine unerfüllten Träume von Macht und Herrschaft endlich in die Tat umzusetzen.

Ein schüchternes Klopfen an der Tür seines Gemachs unterbrach die Überlegungen des Hohenpriesters. Mit einem wütenden Knurren riß Schwarzkralle die Tür so heftig auf, daß sie in ihren Angeln vibrierte, zurückschlug und seinen Besucher um ein Haar von dem Treppenabsatz, auf dem er stand, in die Tiefe gestürzt hätte. Der Bote sprang in einem Wirbel weißer Schwingen hastig zurück, um dem Schneematsch zu entgehen, der sich in diesem Augenblick von dem Balkon über ihm löste. Mit einem sorgsam bedachten Sprung brachte er sich in Sicherheit. Schwarzkralle erkannte ihn. Es war Cygnus, ein Kriegerpriester des Tempels, der den Weg des Schwerts gescheut und sich statt dessen dem Weg des Heilens verschrieben hatte. Der Hohepriester schürzte verächtlich die Lippen – immerhin war Cygnus ein treuer, eifriger Anhänger, und seine ärztlichen Kenntnisse von Giften hatten sich in der letzten Zeit als äußerst nützlich erwiesen.

»Mein Fürst!« brachte der junge Priester keuchend hervor. »Königin Flammenschwinge ist tot!«

Schwarzkralles Herz machte einen Satz, als er diese Neuigkeit hörte. Endlich! Bei Yinze, sie hatte lange genug gebraucht – aber sie hätte sich keinen besseren Zeitpunkt aussuchen können. »Ich komme!« stieß er hervor, aber noch während er sprach, zog ihn ein gedämpftes Prickeln seiner Kopfhaut zurück ins Zimmer. Der Hohepriester drehte sich um – und stöhnte. Auf der Wand gegenüber dem Fenster erglühte ein Teil der blankpolierten Steine in einem dämmrigen, geisterhaften Flackern. Noch während er hinsah, nahm das Leuchten Gestalt an und entwickelte sich zu den vertrauten, grob gemeißelten Zügen des Erzmagusch.

Schwarzkralle stieß einen lauten Seufzer der Erleichterung aus. »Ich komme, sobald ich kann«, sagte er zu dem jungen Krieger. »In der Zwischenzeit will ich unter keinen Umständen gestört werden. Ist das klar?« Er schlug dem verblüfften Boten die Tür vor der Nase zu und verriegelte sie hastig.

»Miathan, wo bist du gewesen?« Schwarzkralle war zu aufgebracht, um die disziplinierten Gedankenmuster zu formen, die normalerweise für ein gedankliches Gespräch erforderlich waren. »Der Schnee schmilzt!« schnatterte er. »Mein Winter löst sich auf, und …«

»Halt den Mund, Schwarzkralle, und hör zu!« Die Gedankenstimme des Erzmagusch klang schwach und weit entfernt. Er hörte sich sehr müde an. »Eliseth, meine Wettermagusch, ist von diesen Abtrünnigen angegriffen worden …«

»Sie wurde angegriffen? Ist sie verletzt? Kann sie mir den Winter zurückbringen?« fragte der Hohepriester entsetzt.

»Natürlich – wenn sie weiß, was gut für sie ist!« Einen Augenblick lang lag nackter Stahl in Miathans Stimme. »Ich werde mich um diese Angelegenheit kümmern, sobald ich zurückkehre. Was mich viel mehr interessiert, ist, wie es deiner Königin geht.«

Schwarzkralle lächelte. »Sie ist tot«, schnurrte er zufrieden. »Das Gift hat bestens gewirkt.«

»Hervorragend! Dann mußt du, so schnell es geht, die Macht ergreifen. Meine Marionette, Prinz Harihn, hat deine Prinzessin dazu gebracht, die Flüchtlinge zu verraten. Sie wird sie in Incondors Turm locken – wirklich eine hervorragende Idee von dir: Er ist geradezu perfekt für einen Hinterhalt –, und wenn du die versprochenen Krieger bereitstellst, kann nichts mehr schiefgehen. Wie bald kannst du bereit sein?« Das Bild lächelte: ein selbstzufriedenes, grausames Lächeln, das einen Schauder über Schwarzkralles Rückgrat jagte.

»Bereit?« ächzte er. »Aber die Königin ist doch gerade erst gestorben. Ich hatte noch keine Gelegenheit …«

»Dann möchte ich doch vorschlagen, daß du dich beeilst, Schwarzkralle. Du wirst ausreichend Zeit haben, um dich vorzubereiten – unsere Flüchtlinge müssen sich für die Reise in die Berge bereit machen, und sie werden wohl einige Tage brauchen, um den Turm zu erreichen. Sieh zu, daß du deine Stadt fest im Griff hast, und überlaß den Rest mir. Halt die Krieger bereit, damit sie auf mein Kommando hin den Abtrünnigen auflauern. Ach, und noch eins, Schwarzkralle – ich habe keine Ahnung, was aus deinem Kristall geworden ist, aber bring diese Angelegenheit so bald wie möglich wieder in Ordnung. Diese Art der Kontaktaufnahme ist anstrengend und auch völlig überflüssig, und ich habe besseren Nutzen für meine Zeit und meine Energie.« Mit diesen Worten war er verschwunden und ließ Schwarzkralle, der empört auf eine leere Wand starrte, allein zurück.