»Sie haben Eliizar in den Kerker gesperrt, zusammen mit Bohan«, sagte Nereni mit zitternder Stimme. »Er wurde verwundet, aber sie lassen mich nicht zu ihm.« Sie erbebte. »Sie haben mich zu Boden geworfen, weil sie mich vergewaltigen wollten, aber der Prinz hat sie davon abgehalten. Er wußte, daß ich mich aus Schande selbst töten würde, und er wollte mich lebendig haben, damit ich mich um dich kümmern kann. Das ist der Grund, warum die Wachen es nicht wagen, mir etwas anzutun. Einige der Geflügelten sind mit Anvar zusammen weggeflogen und …«
»Was hast du gesagt?« Die Tasse klirrte auf den Kamin, und Liafa spritzte in die zischenden Flammen. Aurian umklammerte Nerenis Arm, bis die alte Frau vor Schmerz aufschrie. »Geflügelte haben Anvar mitgenommen? Weiß du, wohin?«
»Aurian!« rief Nereni ärgerlich, aber die Magusch lockerte ihren Griff immer noch nicht.
»Wo haben sie ihn hingebracht, Nereni?«
»Ich bin mir nicht sicher«, wimmerte Nereni. »Sie haben in der Sprache der Himmelsleute gesprochen, aber ich hörte sie Aerillia erwähnen. Dann haben sie Anvar in ein Netz gewickelt und sind mit ihm davongeflogen. Aurian, du tust mir weh.« Sie brach in Tränen aus.
»Nereni, es tut mir leid!« Aurian nahm die weinende Frau in die Arme. »Du bist so tapfer gewesen – ich weiß nicht, was ich ohne dich angefangen hätte. Aber ich habe solche Angst um Anvar, und ich wußte nicht, wo sie ihn hingebracht haben.«
»Ich verstehe«, schluchzte Nereni. »Ich empfinde genauso, was Eliizar betrifft, verwundet und eingesperrt an diesem schrecklichen Ort. Wenn sie mich doch nur zu ihm lassen würden.«
»Keine Angst – wir werden nicht lockerlassen«, tröstete Aurian ihre Freundin. »Wenn Miathan Harihn manchmal allein lassen würde …« Sie hielt inne und überlegte, wie sie Nereni erklären sollte, daß der Prinz nicht mehr war, was er zu sein schien. »Verstehst du«, begann sie, »Harihn ist nicht …«
»Er selbst?« Nerenis Miene hellte sich ein wenig auf, als sie Aurians Erstaunen bemerkte. »Ich weiß«, fuhr sie fort. »Warum glaubst du, daß mein Volk solche Angst vor Hexerei hat? Berichte über Besessenheit sind in unseren Legenden keine Seltenheit. Als er mich vor seinen Männern gerettet hat, schien Harihn ganz normal zu sein, aber dann veränderte sich sein Gesicht bis zur Unkenntlichkeit, und eine andere, zutiefst böse Seele blickte ihm aus den Augen.« Das Zittern ihrer Stimme strafte ihre äußere Ruhe Lügen. »Hat der Prinz seine Seele einem Dämon verkauft?«
Aurian schüttelte den Kopf. »Ich habe dir doch vom Erzmagusch Miathan erzählt, der seine Mächte dem Bösen verschrieben hat. Nun, er hat sich mit Schwarzkralle verbündet, aber er benutzt auch den Körper den Prinzen. Miathan hätte eine solche Besessenheit nicht ohne Harihns Zustimmung erwirken können, daher vermute ich, daß er dem Prinzen den Thron seines Vaters angeboten hat. Ein Verbündeter im Süden würde für seine eigenen Eroberungspläne von großem Nutzen sein. Aber Harihn hat keine Ahnung, wie tief Miathans Falschheit sitzt. Er ist jetzt nur noch eine Marionette, die nach Miathans Pfeife tanzt. Ich habe kein Mitleid mit Harihn, aber dein Volk wird leiden, so wie wir alle leiden werden, wenn wir keinen Ausweg finden.«
»Aber wie sollen wir das schaffen?« rief Nereni. »Er hält Eliizar und Bohan gefangen, und er wird sie töten, wenn wir versuchen zu entkommen.«
»Ich weiß es auch nicht«, gab Aurian zu. »Das heißt, ich weiß es noch nicht. Er hält auch Anvar als Geisel, aber dank deiner Hilfe habe ich jetzt wenigstens eine Vorstellung davon, wo er sein könnte. Mach dir keine Sorgen, Nereni. Wenn wir nicht in Panik geraten, wird uns schon etwas einfallen.«
Während sie ihre Freundin tröstete, versuchte Aurian, so wie Forral es ihr beigebracht hatte, die Situation zu analysieren. Ihre Lage war verzweifelt. Sie war hilflos, bis mit der Geburt ihres Kindes ihre Kräfte zurückkehren würden – aber würde sie Zeit haben, zu handeln, bevor Miathan das Kind tötete? Und wenn es keine Möglichkeit gab, Anvar zu befreien, dort im fernen Aerillia, wie konnte sie da etwas gegen den Erzmagusch unternehmen? Aurians Kopf begann zu schmerzen. Sie war übel zugerichtet, zutiefst verschreckt und hilflos und bis in das tiefste Innerste ihres Wesens hinein verängstigt – und doch zwang sie sich, ruhig zu bleiben und nachzudenken. Es war lebenswichtig, daß sie sich irgendeinen Plan zurechtlegte.
»Aurian!« Die Stimme in den Gedanken der Magusch hatte einen Beiklang von Verzweiflung, so als hätte ihre Besitzerin schon seit einiger Zeit versucht, ihre Aufmerksamkeit zu erringen. Freude durchschoß Aurian, eine Freude, die so heftig war, daß sie ihr fast die Kehle zuschnürte. »Shia! Dich hatte ich ganz vergessen!«
»Das habe ich gemerkt«, sagte Shia trocken. »Närrin! Ich versuche schon seit einer Ewigkeit, dieses Chaos zu durchdringen, das du deine Gedanken nennst.«
»Selber Närrin«, gab Aurian zurück. »Ich habe dir doch gesagt, du sollst hier verschwinden.«
»Ich bin gut versteckt – und falls irgend jemand mich finden sollte, mögen ihm seine Götter beistehen.« Ihre Stimme wurde plötzlich sanft vor Sorge. »Aurian – wie könnte ich dich alleinlassen, ohne zu wissen, was mit dir geschehen ist?«
Mit knappen Worten erzählte die Magusch Shia, was vorgefallen war. Shia fauchte, als sie von Rabes Falschheit und Verrat erfuhr. »Dieses dumme Ding! Ich habe ihr nie vertraut. Nicht umsonst sind die Geflügelten seit Ewigkeiten unsere erbittertsten Feinde. Aber Aurian, wie kannst du mich bitten, dich in solcher Gefahr allein zu lassen? Kann ich nicht irgend etwas tun, um dir zu helfen?«
Einen Augenblick lang schöpfte Aurian Hoffnung. Dann erinnerte sie sich an Anvar, gefangen in Aerillia, und aller Optimismus schwand dahin. Selbst wenn Shia sie befreien konnte und sie dem Erzmagusch entkam, mußte Miathan doch irgendwie in Kontakt mit Schwarzkralle sein. Wenn sie entkam, wußte sie, daß Anvar sterben würde, lange bevor sie ihm zu Hilfe eilen konnte.
Aurian seufzte. Was sie auch unternehmen mochte, sie durfte auf keinen Fall Miathan vergessen. »Nein, Shia«, sagte sie zu der Katze. »Sie haben Anvar als Geisel, und wenn du mich befreist, wird er sterben. Alles, was du tun kannst, ist, den Erdenstab zu nehmen und … bei Ionor, dem Weisen! Warum habe ich nicht früher daran gedacht?« Aurian lachte laut auf, und ihr wurde schwindlig vor Erleichterung. Wie ein greller Blitz war ihr die Erleuchtung gekommen.
»Was?« Shias Ton war scharf vor Verzweiflung. Aurian bemühte sich, ihr Kichern zu unterdrücken, und brachte eilig Nerenis Protest zum Schweigen.
»Shia, hör gut zu. Wir glauben, daß Anvar in Aerillia gefangengehalten wird. Finde ihn, so schnell du kannst, und bring den Stab zu ihm. Er kann ihn benutzen, um zu entkommen!«
»Ist das alles?« Shias Stimme war eisig. »Ich lege einfach dreißig Wegstrecken durchs Gebirge zurück, ganz allein und mitten im Winter, und trage dieses verflixte magische Ding im Maul, das mich schon aus der Ferne ganz kribbelig macht. Dann dringe ich in die uneinnehmbare Zitadelle der Geflügelten ein, natürlich ohne den Stab zu verlieren, und gebe ihn Anvar – angenommen, er ist wirklich dort und ich kann ihn finden –, und dann hoffe ich, daß du ihm genug Magie beigebracht hast, um uns irgendwie wieder herauszubekommen. Habe ich etwas vergessen?«
»Ich glaube, du hast alles aufgezählt«, erwiderte Aurian mit einem Lächeln. »Wenn irgend jemand es schaffen kann, Shia, dann du.«
Shia seufzte. »Na schön, wenn es das ist, was du willst – aber wenn ich Anvar zu Hilfe eile, was wird dann aus dir?«
Die Hoffnungslosigkeit ihrer Situation kehrte wie eine schwarze, erstickende Wolke in Aurians Bewußtsein zurück. »Shia, ich weiß es nicht. Es sieht schlimm aus, und es wird wahrscheinlich noch schlimmer.«
»Dann erlaube mir, dich da rauszuholen. Ich weiß, ich kann es schaffen.«