Er fuhr herum, einen Fluch auf den Lippen, und wandte sich dann ab, als hätte sie aufgehört zu existieren. Wieder starrte er finster in sein Bier. Dann rieb er sich mit der Hand über die Augen, mit einer Geste, die so furchtbar müde wirkte, daß Tildas Herz ihm entgegenflog. Sag mal, Mädchen, was denkst du dir eigentlich dabei? schalt sie sich selbst. Du bist genauso töricht wie er. Sie hatte schon früher erwachsene Männer in ihr Bier weinen sehen; das hatte nichts zu bedeuten. Aber trotzdem war es einen Versuch wert. »Du siehst aus, als könntest du etwas Gesellschaft gebrauchen«, sagte sie leise. »Würde ich nicht vielleicht reichen? Nur für heute nacht?«
Diesmal war der Gesichtsausdruck des Soldaten voller Sehnsucht. »Ach, Mädchen!« Seine Stimme schwankte bereits leicht von dem vielen Bier, das er getrunken hatte. »Du würdest ganz bestimmt reichen und sogar noch mehr als das, aber …« Er zuckte mit den Schultern und förderte, nachdem er eine Weile in der Tasche seines Lederrocks herumgesucht hatte, nichts als einige wenige Kupferpfennige zutage. »Gerade im Augenblick könnte ich dir nicht einmal ein Ale spendieren.«
»Oh!« Tilda wandte sich ab, seltsam enttäuscht und wütend über sich selbst, weil sie so empfand. Also wirklich, es war jetzt Jahre her, seit sie einen Mann als Person betrachtet hatte! Eine Möglichkeit, sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen, das war alles, was Männer ihr noch bedeuteten, mehr nicht. »Tilda, du bist eine Närrin«, sagte sie zornig zu sich selbst. »Daß du es ja nicht wagst, jetzt plötzlich weich zu werden!« Sie wandte sich statt dessen den Würfelspielern zu, aber die hatten ihre Gewinne eingesteckt und waren gegangen, während sie ihre Zeit mit diesem Hungerleider von Soldaten verschwendet hatte. »Die Pest über alle verfluchten Soldaten«, murmelte Tilda. Nun, sie konnte ebensogut gehen; sie konnte es sich nicht leisten, sich selbst etwas zu trinken zu kaufen.
In diesem Augenblick flog die Tür der Taverne auf, und ein Schwall übelriechenden Nebels schoß in den Raum, gefolgt von etwa einem Dutzend Söldner, die die ursprüngliche Stadtwache ersetzt hatten. Das Schlußlicht bildete ein fettleibiger, schieläugiger kleiner Mann in der goldbestickten Robe eines Händlers. »Da ist er!« quiekte er und zeigte auf Tildas Fremden. »Das ist der Mann, der versucht hat, mich zu ertränken. Nehmt den Lumpenhund auf der Stelle gefangen!«
Es herrschte eine wie vom Donner gerührte Stille in der Schankstube, während der Gildeherr Pendral seinen Soldaten Befehle gab. Auf ein kurzes Nicken ihres Hauptmanns hin umzingelten die Männer den Soldaten. Das Ganze erinnerte Tilda an eine gräßliche Szene, die sie einmal in den erbärmlichen Elendsquartieren miterlebt hatte, als ein Rudel Straßenköter auf ein hilfloses Kind zugerannt war und es dann zerfetzt hatte. Aber das hier war kein hilfloses Kind. Mit einem stählernen Surren zog der Krieger sein Schwert und erhob sich schwankend.
Tilda nahm aus den Augenwinkeln eine allgemeine Bewegung zur Hintertür der Taverne hin wahr, als all die Feiglinge in der Ecke sich davonstahlen. Der Raum leerte sich wie durch einen Zauber – selbst der Mann hinter dem Tresen machte sich unsichtbar. Der Schwertkämpfer befand sich in einer hoffnungslosen Lage. Tilda, die sein Schicksal nicht teilen wollte, hielt es für klug, ebenfalls zu fliehen, solange die Wachen noch abgelenkt waren. Leise erhob sie sich von ihrem Stuhl und schlich zur Tür hin.
Sie hatte keinen Augenblick lang die Absicht gehabt, zurückzusehen, aber trotz ihres stark ausgeprägten Selbsterhaltungstriebes wurden ihre Augen von der Szene in der Schänke magisch angezogen. Die Wachen sammelten sich und stürmten nach vorn. Ihre Schwerter krachten hinunter – und bohrten sich bierverspritzend in den Tisch, während der Fremde sich duckte und zur Seite rollte. Dabei riß er zwei seiner Angreifer in einem Wirrwarr von Armen und Beinen mit sich. Tilda raffte ihre Röcke, um wegzulaufen, aber ein schriller Schmerzensschrei brachte sie mit einem Ruck wieder zum Stehen. Ein Gegner des Soldaten rollte sich, ein Messer im Bauch, schreiend über den Boden. Tilda keuchte. Wer war dieser Mann? Sogar im betrunkenen Zustand waren seine Bewegungen so schnell, daß sie ihnen kaum mit ihrem Blick folgen konnte.
Er hatte die anderen offensichtlich eingeschüchtert. Keiner wollte der erste sein, der sich an ihn heranwagte. Die übrigen Wachen bildeten einen lockeren Halbkreis um den Fremden, der, in die Enge getrieben, mit dem Rücken zur Durchreiche stand. »Nun?« verhöhnte er sie. »Welcher von euch Mistkerlen will der nächste sein?«
Es war ein Patt – der Fremde schien betrunken zu sein, aber nach der Schnelligkeit seiner Reaktionen zu urteilen, zweifelte Tilda daran. Dann sah sie den Mann, der die Getränke ausschenkte – das Aufflackern einer schattenhaften Bewegung hinter der Durchreiche. Er hielt ein Schwert in der Hand und lauerte hinter dem Fremden in der offensichtlichen Absicht, den Söldnern ihre Arbeit abzunehmen. Zweifellos hoffte er auf eine Belohnung. Er hob den Arm …
»Hinter dir!« schrie Tilda. Der Fremde duckte sich gerade noch rechtzeitig. Das Schwert streifte ihn mit einem Schlag seitlich am Kopf und krachte hinunter, um sich in den Tresen zu graben, während sein eigentliches Opfer zur Seite sprang und nicht mehr zu sehen war, als die Wachen entschlossen auf ihn zugingen. Zu dieser Zeit hatte Tilda bereits eigene Probleme. Sie hatte genau das getan, was sie sich geschworen hatte, nicht zu tun: sie hatte Aufmerksamkeit auf sich gelenkt. Hände griffen von hinten nach ihr und rissen ihr die Arme auf den Rücken.
»Behinderung der Stadtwache, wie? Du stehst unter Arrest, du Miststück!« Die Stimme hallte in ihren Ohren wider, gefolgt von warmem Speichel, der sie seitlich im Gesicht traf und dann widerwärtig schleimig über ihre Wange rann. Ihre Arme wurden ihr weiter auf den Rücken gedreht, bis sie vor Schmerz aufschrie – dann sah sie aus den Augenwinkeln plötzlich eine Bewegung und hörte das Geräusch einer Faust, die auf Knochen krachte. Der Griff um ihre Arme lockerte sich so abrupt, daß sie nach hinten taumelte, wo sie von einem anderen Paar Arme aufgefangen wurde – sanfte, hilfsbereite Arme diesmal. Tilda blickte in das häßlichstes Gesicht, das sie je gesehen hatte.
»Jarvas!« stöhnte sie dankbar. Der verletzte Söldner, der sie festgehalten hatte, war nach Luft ringend zurückgetaumelt, und Blut sickerte ihm durch die Finger, die er sich über das Gesicht gelegt hatte.
»Der da wird eine Zeitlang keiner Frau mehr wehtun.« Während er sprach, führte Jarvas sie zu einem Hocker im Schutz einer Ecke. Tilda sah mit offenem Mund zu, wie er einen schweren Ast aus dem Holzhaufen neben dem Feuer zog und sich ins Getümmel stürzte.
Der Fremde hielt nach wie vor die Stellung, aber nur noch mit großer Mühe. Blut sickerte aus einer Kopfverletzung, wo man ihm um ein Haar das linke Ohr abgetrennt hätte. Blut tropfte über seine Rippen und besudelte seine dicke Lederjacke. Obwohl der Kampf sich auf die andere Seite des Raumes verlagert hatte, stand er immer noch mit dem Rücken zur Wand, aber die Wachen, ein Dutzend oder mehr, kamen ihm näher, und Tilda konnte sehen, daß er langsam schwächer wurde. Seine Augen waren bereits glasig, und er taumelte. Jeden Augenblick …
In dieser Sekunde stürzte sich Jarvas auf die Söldner und schwenkte seinen dicken Ast, den er in beiden Händen hielt. Der ihm am nächsten stehende Wachmann, der nicht gemerkt hatte, daß der um sich schlagende Riese auf sie zustürmte, brach unter der Wucht seines Schlages zusammen. Die anderen drehten sich mit erhobenen Schwertern um, um kurzen Prozeß zu machen mit diesem Wahnsinnigen, der es wagte, sich mit nichts anderem als einem Ast gegen ihre langen Stahlklingen zu stellen. Das war ihr Fehler. Der Fremde, der sah, daß Hilfe nahte, schien neue Kraft zu finden. Mit einem wilden Schrei stürzte er sich auf sie und kämpfte wie ein Derwisch.
Jarvas wütete wie besessen, ließ seinen Ast auf Arme und Gesichter niederkrachen, wich Schwerthieben aus und richtete größtes Unheil unter den Söldnern an. Es sah so aus, als würde das ungleiche Paar gegen alle Erwartungen gemeinsam den Sieg erringen, als Tilda bemerkte, wie der fette Kerl von einem Kaufmann, der diesen ganzen Ärger begonnen hatte, zur Tür schlich – offensichtlich um Hilfe zu holen. Die Erregung des Kampfes war Tilda zu Kopf gestiegen. Ohne auch nur einen Augenblick lang nachzudenken, griff sie nach ihrem Hocker und schlich sich von hinten an Pendral heran, um ihm einen schweren Schlag auf den Hinterkopf zu versetzen. Das dünne Holz zersplitterte unter der Wucht ihres Schlages, und der fette Mann stürzte wie ein gefällter Baum zu Boden. Tilda stieß einen Jubelschrei aus. Erst jetzt hatte die Erregung des Kampfes sie wirklich gepackt, und sie griff nach einem weiteren Hocker, um sich auf die übrigen Wachen zu stürzen, wobei sie jedesmal wartete, bis einer ihr den Rücken zuwandte, bevor sie auf ihn einschlug.