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Es war ganz leicht – bis die Wachen bemerkten, daß ihr Angreifer weder ein Riese noch ein Krieger war, sondern eine kleine und unerfahrene Frau. Wie ein Mann bewegten sich plötzlich auf sie zu. Tilda wich zurück, und ihr wurde tödlich kalt, als sie begriff, daß sie sich da mehr vorgenommen hatte, als sie bewältigen konnte.

»Was, im Namen aller Götter, glaubst du, was du da tust?« Ein starker Arm riß sie zur Seite, gerade in dem Augenblick, als eine Klinge pfeifend niedersauste, wo sie kurz zuvor noch gestanden hatte. »Aus dem Weg mit dir, du Idiotin, und komm uns ja nicht wieder in die Quere!« Jarvas schleuderte sie so heftig zur Seite, daß sie der Länge nach hinfiel. Dann ließ er einen gespaltenen und im Laufe des Kampfes immer kürzer gewordenen Knüppel auf das Handgelenk des Mannes niedersausen, der sie angegriffen hatte. Tilda raffte sich fluchend auf und rieb sich ihre blauen Flecken. Sie war dankbar für ihre Rettung, aber gleichzeitig auch auf geradezu absurde Weise verärgert darüber, daß er so grob und beleidigend zu ihr gewesen war. Ich bin bis dahin ganz gut zurechtgekommen, dachte sie zornig. Ich werde es ihm schon zeigen. Sie sah sich nach einem weiteren Hocker um, aber der Kampf war bereits vorüber. Der Fremde grinste Jarvas über einen Haufen regloser Menschenleiber hinweg an. »Guter Kampf«, sagte er und brach zusammen.

»O verflucht«, sagte Jarvas. »Kannst du mir helfen? …« Einen Augenblick lang runzelte er die Stirn, dann hellte sein Gesicht sich auf. »Tilda, nicht wahr? Ich muß ihn nach Hause bringen. Und für mich wird es heute nacht auf der Straße auch nicht mehr sicher sein, sobald sich diese Sache hier herumgesprochen hat.« Er hielt inne und blickte auf sie herab. »Ich fürchte, das gilt auch für dich, Mädchen – du hättest weglaufen sollen, als du noch die Chance dazu hattest. Jetzt steckst du genauso tief in der Sache wie wir.«

Tilda erstarrte. »Ich kann nicht mit euch gehen«, protestierte sie, denn sie weigerte sich, die eigentliche Bedeutung ihrer Worte zu akzeptieren. »Was ist mit meinem Sohn? Er braucht mich. Außerdem muß ich mir meinen Lebensunterhalt verdienen.«

Jarvas sah sie ernst an und schüttelte den Kopf. »Nicht in Nexis«, sagte er zu ihr. »Jetzt nicht mehr.«

13

Incondors Klagelied

Die große Katze humpelte über die überall im Tal verstreuten Felsblöcke, und ihre kraftlosen Füße hinterließen eine Blutspur auf den grausam spitzen Steinen. Ihre massige Gestalt, die durch die einsame Größe der Berge viel kleiner erschien als sonst, kam Anvar mitleiderregend zerbrechlich vor; ihre hervorstehenden Rippen warfen Streifen aus Licht und Schatten über das glanzlose, matte Fell, das an ihren eingesunkenen Flanken herabhing. Ihre Schnauze war da, wo ihre Zähne sich grimmig um den Stab der Erde klammerten, mit Blasen und Schorf überzogen, und Speichel hing ihr in dicken, schleimigen Fäden vom Kiefer herab.

»Shia! Große Götter, Shia!« rief Anvar laut, unfähig, den Anblick des Leidens der großen Katze zu ertragen.

Sie blickte zu ihm auf, und ihre gelben Augen waren stumpf und glasig. »Was willst du?« sagte sie kurz, ohne eine Pause auf ihrer qualvollen, eintönigen Wanderung einzulegen.

»Shia! Was ist los? Geht es dir gut? Bei den Göttern, was ist mit dir geschehen?«

Die große Katze fauchte trotz des Stabes, den sie im Maul hielt. »Sehe ich so aus, als ginge es mir gut?« schnaubte sie. »Und um dir deine andere dumme Frage zu beantworten. Was mit mir passiert ist? Ganz einfach: Dieses Ding, das ich da trage, versucht, mich allmählich zu töten. Aber es wird keinen Erfolg haben, was immer es selbst auch denken mag. Und es denkt wirklich – wenn auch vielleicht nicht im gewöhnlichen Sinne. Es ist mehr wie ein Instinkt; da ich seine Macht nicht benutzen kann, versucht es, mich zu zerstören. Ihr Magusch solltet das eigentlich wissen.« Sie taumelte, stöhnte vor Schmerz einmal kurz auf und begann schließlich weiterzusprechen, während sie ihren mühseligen Marsch wieder aufnahm. »Und was die Frage betrifft, wo ich gerade bin – ich bin auf dem Weg zu dir. Aurian hat mich gebeten, dir dieses verflixte Ding zu bringen, damit du von Aerillia entkommen und ihr zu Hilfe eilen kannst …«

Das Tal schien sich mit einem silbrigen Nebel zu füllen, der wie eine unablässige Flut über das Land strömt. Anvar verlor Shia … sie verschwand vor seinen Augen …

»Was machst du überhaupt da?« fuhr sie ihn an. »Hör sofort mit diesem Unsinn auf, und geh wieder in deinen Körper! Ich würde ja schön dastehen, wenn ich dieses gräßliche Ding den ganzen Weg nach Aerillia trage, und du bist tot. Wage es bloß nicht, Aurian so im Stich zu lassen. Sie braucht dich …«

Shia und das Tal waren plötzlich verschwunden. Alles, was übrigblieb, war der klebrige, silberne Nebel …, der sich hob, um ihm Aurian zu zeigen, zusammengekauert neben dem Feuer in dem quadratischen, kleinen Raum in Incondors Turm; ihre Schultern hingen müde herab und verrieten vollkommene Niedergeschlagenheit. Anvars Herz sehnte sich nach ihr. »Aurian!« rief er, und es verlangte ihn danach, sie zu trösten, aber ohne ihre Kräfte konnte sie ihn nicht hören. Nach einer Weile hob sie blinzelnd den Kopf, und er sah die gelben Schrammen auf ihrem Gesicht, die Miathans Hand dort hinterlassen hatten. Zorn brodelte in ihm auf. Es war lebenswichtig, daß er entkam und sie rettete – aber wie?

Was hatte Shia gesagt? Geh wieder zurück in deinen Körper … Wenn ich dieses gräßliche Ding den ganzen Weg nach Aerillia trage, und du bist tot …

Anvars stöhnte. »Ist es das, was gerade mit mir passiert? Aber ich kann doch jetzt nicht sterben!« Verzweifelt taumelte er durch den bösartigen Nebel und suchte einen Weg zurück zu seinem Körper; mit jedem Augenblick, der verging, wuchs seine Panik. »Helft mir doch, irgend jemand – o Götter – ich kann nicht hinaus … helft mir hüte …

»Na komm schon, Junge, Kopf hoch.« Die schroffe und doch sanfte Stimme mit ihren Erinnerungen an Zuversicht und lange vergangene Freundlichkeiten durchschnitt Anvars Furcht, wärmte ihm das Herz und bestärkte seine Entschlossenheit wie ein Schluck starken Weines. Anvars Entsetzen löste sich auf, und wilde Freude schoß durch ihn hindurch. »Forral! Aber du bist doch …!«

»Jawohl, ich bin tot – und du auch, jedenfalls beinahe, was auch der Grund dafür ist, daß ich dich erreichen kann.«

Anvar konnte ihn jetzt beinahe sehen – eine breite, schattenhafte Gestalt inmitten von wirbelnden Nebeln, das geisterhafte Flimmern, das nur dieses schnelle, blitzartige Lächeln sein konnte, das Anvar so gut kannte.

»Komm schon, Junge, wir müssen dich zurückbringen, bevor man herausfindet, was ich vorhabe. So etwas darf ich nämlich eigentlich nicht tun, weißt du!« Da war es wieder, dieses vertraute, boshafte Kichern. Anvar brauchte Forral nicht zu sehen, um zu wissen, daß wieder dieses alte Zwinkern in seinen Augen lag – wie es früher immer gewesen war, wenn er und Vannor etwas getan hatten, um den Erzmagusch zu überlisten. Eine schwielige Hand umschloß die seine. Wie kann ich das spüren, wenn wir doch tot sind? dachte der Magusch wild.

Dann hatte Anvar das Gefühl, plötzlich heftig herumgewirbelt zu werden, und fand sich schließlich in der Höhle wieder, wo er auf sein eigenes graues Gesicht niederblickte, ein Gesicht, das ganz spitz war und vom Fieber glänzte. Sein Körper zuckte unruhig unter den Pelzen, und eine weißgeflügelte Gestalt kniete stirnrunzelnd über ihm, während sie eine Hand auf sein Herz legte.