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»Sieh lieber zu, daß du schnell wieder da reinkommst, du hast nicht mehr viel Zeit«, riet Forrals Stimme ihm. Obwohl er den Schwertkämpfer nicht sehen konnte, spürte Anvar den Druck von Armen um seine Schultern, spürte, wie er fest gegen einen anderen Leib gepreßt wurde. Forrals Stimme flehte ihn an: »Um aller Götter willen, Junge, paß auf Aurian auf!«

Anvars Kopf schien zerplatzen zu wollen, und sein Mund war trocken und pelzig. Ihm war übel, und sein Körper schmerzte, als hätte er eine schlimme Rauferei hinter sich. Aber erst als er mit aller Kraft versuchte, sich aufzusetzen, sah er die niedrige, gezackte Decke der Höhle und das jugendliche, feinknochige Gesicht, das, unter einer Fülle schneeweißen, seidigen Haars verborgen, zu ihm hinunterblickte. Die Gestalt war in zusammengefaltete, weiße Hügel eingehüllt, und hinter ihr, am Eingang der Höhle, stand ein bewaffneter, in Schwarz gekleideter Wachposten.

»Was …« Anvars Mund war so trocken, daß die Worte ihm in der Kehle steckenblieben. Er spürte einen unangenehmen Druck auf der Brust und konnte nur in flachen, keuchenden Stößen atmen. Er hustete, und ein scharfer Schmerz durchfuhr seine Rippen. Dann wurde ihm eine Tasse an die Lippen gedrückt, und er spürte, wie ein knochiger Arm seinen Kopf stützte. Anvar trank begierig, verschluckte sich und dachte an nichts anderes als an die Bedürfnisse des Augenblicks, bis sein furchtbarer Durst gestillt war. Dann öffnete er wieder den Mund, um zu sprechen, wurde jedoch unterbrochen.

»Pst! Schone deine Kraft. Du hattest hohes Fieber von deiner Reise hierher und von den Entbehrungen, die du vorher erlitten hast.« Der geflügelte Mann runzelte die Stirn und wirkte plötzlich deutlich älter. »Das Gift hat sich in deinen Lungen niedergelassen«, fuhr er fort. »Du warst nur einen Federhauch davon entfernt, die Pfade des Himmels zu beschreiten …«

Anvar schauderte. Gleichgültig, wie man es ausdrückt, dachte er, tot ist immer noch tot. Irgend etwas nagte in den Tiefen seines Bewußtseins an ihm, aber der Himmelsmann hatte wieder zu sprechen begonnen und vertrieb damit alle anderen Gedanken. »Ich muß jetzt gehen«, sagte er, »aber ich habe ein Feuer entzündet, und daneben findest du ein wenig Suppe und zusätzliches Brennholz. Du mußt dich um jeden Preis warmhalten. In dieser Flasche hier ist Medizin gegen deinen Husten. Ich komme zurück, sobald ich kann«, fügte er hinzu und war auch schon verschwunden. Anvar konnte ihm nur sprachlos hinterhersehen.

Da war Schmerz und nur Schmerz. Er umschlang ihre ganze Welt. Rabe lag niedergedrückt unter der furchtbaren Last der Qual, die in pulsierenden Wogen über sie hinwegrollte. Sie öffnete die Augen, um das Bein ihres Nachttischchens zu betrachten, einen Teil des Bodens – und Blut – soviel Blut, überall, auf jedem Fleck, den sie mit ihrem kleinen Gesichtskreis erfassen konnte. Klumpen verklebter, schwarzer Federn lagen in einer klebrigen Masse, vermischt mit winzigen Knochensplittern. Rabe erbrach sich und zuckte bei dem Anblick zusammen; die Bewegung schnitt wie ein Messer aus Feuer durch ihre Nerven, und sie versuchte, sich wieder in die Bewußtlosigkeit fallenzulassen, versuchte, der Erinnerung an die Schläge, die auf sie niedergehagelt waren, zu entfliehen, dem Schmerz zerrissenen Fleisches und zersplitterter Knochen. Ihre Ohnmacht war ihr zu diesem Zeitpunkt höchst willkommen gewesen. Mit dem Wunsch zu sterben hatte sie die Dunkelheit umarmt, wie sie einst Harihn umarmt hatte. Ein Lachen voller Selbstverhöhnung, so bitter wie Galle, stieg in Rabes Kehle hoch, und sie zuckte wieder zusammen, so weh tat es. Schwarzkralle hatte einen Narren aus ihr gemacht. Er hatte sie wieder einmal übertölpelt. Angesichts der raffinierten Grausamkeit seiner Natur hätte sie wissen müssen, daß der Tod das letzte war, was er für sie bereithielt, das letzte Glied in einer lange Kette von Qualen.

Aber keine Qual konnte schlimmer sein als dieses Schicksal, das Incondor zur bitteren Niederlage geführt hatte. Sie würde nie wieder fliegen können. Die belebende Freiheit des Himmels war ihr für immer verwehrt. Oh, aber dieser Schuft von einem Priester war schlau! Wenn er sie heiratete, konnte er als ihr Gemahl die Macht ergreifen, aber sie würde immer noch Königin und damit für alle Zeit eine Bedrohung für ihn sein. Er konnte sie kaum weiter gefangenhalten – sie und ihre Mutter mußten in der Zitadelle immer noch Anhänger haben. Auf diese Weise würde er jedoch alles bekommen. Sie war die letzte von Flammenschwinges Geschlecht, aber verkrüppelt wie sie war, würde man ihr nie gestatten zu herrschen. Es verstieß gegen das Gesetz ihres Volkes. Wenn Schwarzkralle es fertigbrachte, daß sie ein Kind von ihm bekam, konnte er ein ganzes Leben lang als Regent für einen Marionettenerben herrschen. Um die königliche Linie am Leben zu erhalten, würde ihr Volk es zulassen. In diesem Falle würde sie selbst natürlich verzichtbar sein, es sei denn, er beschloß, sie zu seiner eigenen Belustigung weiterleben zu lassen.

Rabe schauderte. Leben? Als Krüppel, als ein Gegenstand des Spotts oder, was vielleicht noch schlimmer war, des Mitleids? Da kam ihr der rettende Gedanke, und ihr Lachen – ein echtes Lachen des Triumphes diesmal – schrillte durch den verlassenen Raum. Oh, sie konnte ihn immer noch schlagen, und wie süß würde es sein, sich ihren letzten, noch verbliebenen Wunsch zu erfüllen, mit dem sie gleichzeitig ihrem Feind einen Strich durch all seine Rechnungen machen würde.

Selbst die kleinste Bewegung schien eine Ewigkeit zu dauern. O Mutter, es tut so weh! Mach, daß es aufhört! Der Raum um sie herum begann zu verblassen, und Rabe biß sich auf die Lippe, blinzelte heftig und atmete so tief durch wie möglich, bis sie endlich wieder klar sehen konnte. Im Hintergrund hörte sie das Heulen des Windes in den Turmspitzen des Tempels. Incondors Klagelied, so nannte ihr Volk diesen Klang. Das alptraumhafte Gebäude des Tempels war eigens erbaut worden, um seinen Niedergang zu bezeugen – und sein Schicksal.

Incondors Klagelied … Jetzt verstand Rabe das Unglück einer gequälten Seele, das in diesem furchterregenden Klang mitschwang. Mit träumerischem Gleichmut betrachtete sie ihre Hand – eine weiße Spinne, überströmt mit rostrotem Blut –, wie sie einen qualvollen Zentimeter nach dem anderen auf das spindeldürre Bein des Nachttischs zukroch. Endlich berührten ihre Finger den Tisch und schlossen sich um das glatte, kalte Metall. Gut. Die Beine hatten immer einen etwas unsicheren Stand gehabt; sie erinnerte sich daran, wie sie ihre Mutter wieder und wieder gequält hatte, das Tischchen reparieren zu lassen. Rabe holte tief Luft und biß die Zähne zusammen. Fall jetzt nur nicht in Ohnmacht! befahl sie sich zornig. Prinzessin des Himmelsvolkes, wage es nicht, ohnmächtig zu werden! Dann zog sie, zog so fest sie nur konnte.

Der Schrei explodierte gegen ihre zusammengebissenen Zähne und tauchte schließlich als ein Wimmern daraus auf, ein Laut, der jedoch sogleich durch das Krachen splitternden Kristalls übertönt wurde. Das Geräusch verhallte, und alles wurde schwarz. Verflucht sollst du sein, Rabe, fall nicht in Ohnmacht! Irgendwie schaffte die Prinzessin es, sich von dem Rand des Abgrunds zurückzureißen, indem sie jeden Fluch vor sich hinmurmelte, den sie von Aurian gelernt hatte, bis der Schmerz den Punkt erreicht hatte, an dem er einfach nur noch unerträglich war. Sie öffnete wieder die Augen. Und da war es. Die Schale ihres Kristallkelchs war in kleine Stücke gesplittert, aber der dickere Stiel war unversehrt davon abgebrochen, wie sie es gehofft hatte. Die Stelle, an der er früher mit dem Kelch verbunden war, hatte jetzt einen scharfen gezackten Rand.

Sie hatte ihn sich eigentlich in die Brust rammen wollen. Aber als sie zitternd dalag, jeder Muskel und jeder Knochen überdehnt und kraftlos, wußte Rabe, daß sie es nicht schaffen würde. Außerdem waren die Herzen der Geflügelten schwer zu finden, denn sie lagen geschützt unter dem großen, kielförmigen Brustbein, in dem die Muskeln ihrer mächtigen Schwingen verankert waren.