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O Vater des Himmels – warum haben sie mir meine Flügel genommen? Endlich gestattete Rabe es sich, einige Tränen zu vergießen, Tränen um all die Herrlichkeiten, die sie nun nie wieder würde genießen können; die Freude an der Jagd – zu schweben über sich unablässig verändernden Wolkengebirgen, hindurchzustoßen durch kälteste, graue Nebel, um unter sich die majestätischen Berge aufblitzen zu sehen … Und das Licht! Die reinen, strahlenden Farben, die sich mit jeder Stunde des Tages veränderten …

Trunken von der Herrlichkeit eines lang vergessenen Sonnenuntergangs, griff Rabe nach dem abgebrochenen Stiel des Kelchs und riß das gezackte Kristall über die Adern ihres ausgestreckten Arms …

Cygnus saß auf dem einsamen Hocker in seiner winzigen Zelle in den Gewölben unter dem Tempel des Yinze und las. Zumindest versuchte er zu lesen. Der Wind blies immer noch heftig, und das kreischende Jammern von den Turmspitzen über ihm konnte mühelos durch den soliden Felsen dringen, der zwischen dem jungen Arztpriester und der Quelle dieses abscheulichen Geräusches lag. Cygnus stöhnte, wobei der Klang seiner Stimme in dem allgemeinen Hintergrundgetöse ungehört verklang. Incondors verfluchtes Klagelied! Es störte ihn nicht nur in seiner Konzentration, sondern machte ihn mit seinem unheimlichen Heulen schon seit einiger Zeit nervös. Wenn das noch lange so geht, dachte er, verliere ich den Verstand. Schwärzeste Gotteslästerung, die es sein mochte, wünschte Cygnus sich doch, daß der Schöpfer des Tempels etwas mehr an die armen Priester gedacht hätte, die in seinen unteren Gewölben leben mußten.

Abgesehen von der Qual des Klagelieds gingen dem jungen Arztpriester zu viele Dinge durch den Kopf, um sich zu konzentrieren. Die Oberste Ärztin Elster hatte sich ebenfalls um die Königin gekümmert, als diese krank gewesen war, und Cygnus wußte, daß sie die Wirkung des Giftes erkannt haben mußte, das er Flammenschwinge auf Schwarzkralles Anweisung hin verabreicht hatte. Nur Elsters wilder Blick und der eiserne Griff, mit dem sie ihre Krallen in die Knochen seines Handgelenks gebohrt hatte, hatten ihm verraten, daß sie wußte, was er getan hatte; die Tiefe seines Respekts für seine alte Lehrerin hatte ihn jedoch davon abgehalten, die Wahrheit vor Schwarzkralle herauszusprudeln und sie zu verraten. Das hätte sehr wohl den Tod seiner alten Lehrerin bedeuten können. Schwarzkralles Spione waren überall in der Zitadelle, und er hatte Ohren in jedem Raum.

Es war Elster, die dafür verantwortlich gewesen war, daß Cygnus seine Karriere als Tempelwache für ›den Pfad des Lichts‹ aufgegeben hatte, wie die Geflügelten das Studium der heilenden Kunst nannten. Mit einer einzigen Tat hatte die Meisterärztin sein Leben für alle Zeit verändert. Cygnus war in jenen Tagen nichts als der sorglose Sproß einer berühmten Familie gewesen, gesegnet mit einem unbekümmerten Geist und einer Schnelligkeit, die sowohl Körper als auch Verstand umfaßte. Wie man es von ihm in der dem Kastenwesen unterworfenen Gesellschaft des Himmelsvolkes erwartete, war er der Syntagma beigetreten, der elitären Kriegerwache der Priesterschaft, und war dort bestens vorwärtsgekommen – bis zu dem Tag, an dem er um ein Haar den Tod von Sonnenfeder, seinem engsten Freund, verschuldet hätte.

Der Unfall fand während einer Trainingsübung statt, bei einer gewaltigen Kollision mitten in der Luft, die ganz und gar seiner eigenen Unaufmerksamkeit zuzuschreiben war. Cygnus, der genug Platz in der Luft hatte, um seinen taumelnden Sturzflug wieder unter Kontrolle zu bekommen, entging der Strafe für seine Unvorsichtigkeit. Sonnenfeder, der durch den Zusammenstoß bereits bewußtlos gewesen war, war direkt gegen einen Berghang geprallt. Cygnus, zu erschüttert für Worte, hatte sich zu der entsetzten Traube seiner Kameraden hinzugesellt, die sich um das Opfer geschart hatte, gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie sein Freund aufhörte zu atmen. Genau in diesem Augenblick war Meisterin Elster erschienen. Zerbrechlich, alt und zerzaust von ihrem hastigen Aufbruch, hatte sich Elster mit wenigen energischen Worten ihren Weg durch die Menge gebahnt. Ihr düster dreinblickendes, feinknochiges Gesicht war durchzogen von Falten und gekrönt von einer Fülle seidigen Haares, das auf auffällige Weise schwarz und weiß gesträhnt war. Ihre knochige Gestalt war in zusammengefaltete Flügel gehüllt, deren Federn bunt gescheckt und von einem kühnen Muster gezeichnet waren. Cygnus sah voller Ehrfurcht und mit wachsender Ungläubigkeit zu, wie sie auf Sonnenfeders Brust schlug und ihm den Atem ihres eigenen Lebens in die Lungen hauchte, bis sein Freund wieder selbst zu atmen begann.

Sonnenfeder hatte den Sturz überlebt, eine Tatsache, die Cygnus wie ein Wunder erschien. Elster hatte ihm nicht nur viel Trauer erspart, sondern ihn auch vor der lebenslangen Last der Schuld bewahrt. Seine Bewunderung für die ältere Ärztin kam beinahe glühender Verehrung gleich. Wie hatte sie das Wunder bewirkt, den Toten wieder ins Leben zurückzuholen? Plötzlich schien es Cygnus eine weit würdigere Tat zu sein, Leben zu retten, als es zu nehmen, wie man es ihn bisher gelehrt hatte.

Es hatte jedoch längere Zeit gedauert, bis es ihm gelang, Elster davon zu überzeugen, daß er es mit seinem neuen Ehrgeiz ernst meinte. Erst als er seine Stelle in der Syntagma aufgegeben hatte und daraufhin von seiner Familie verstoßen wurde, stimmte sie endlich und auch nur widerwillig zu, ihn in die Lehre zu nehmen. Sie war sicher, daß er die langen Jahre der mühsamen und vielfältigen Ausbildung niemals durchhalten würde. Cygnus hatte sich darangemacht, ihr das Gegenteil zu beweisen, und damit ihre Bewunderung und ihre Zuneigung gewonnen – bis er ihr beim Einbruch dieses furchtbaren Winters wegen eines anderen, finstereren Lehrers die Treue gebrochen hatte.

Als der Weiße Tod seine Klauen in ihre Berge schlug, fielen die Geflügelten in großer Zahl der Kälte zum Opfer. Überall um den gepeinigten Cygnus herum erlagen die Bewohner Aerillias einem langsamen, qualvollen Tod, starben an Kälte, Krankheit und Entbehrung. Der junge Arzt konnte das Ungeheuer nicht besiegen; all die Künste, auf die er so stolz gewesen war, waren machtlos dagegen. Cygnus begann an sich selbst und seinen Fähigkeiten zu zweifeln, und die Nutzlosigkeit all seiner Versuche umfing ihn, bis sein Verstand nur noch haltlos in einer See aus Finsternis trieb.

Cygnus, der in einem Morast aus Verbitterung und Verzweiflung versank, klammerte sich hilflos an den letzten, schwachen Hoffnungsschimmer – Schwarzkralle und seine Opferungen. Weil er sonst nichts mehr hatte, woran er hätte glauben können, gewöhnte sich Cygnus langsam an die Vorstellung, daß es nur dann wieder möglich sein würde, die legendären, heldenhaften Heilungen zu bewirken, die in den alten Annalen beschrieben waren, wenn es dem Hohenpriester gelang, die verlorenen magischen Kräfte der geflügelten Rasse wiederherzustellen. Widerstrebend zuerst, aber mit wachsender Bereitwilligkeit, hatte er sich Schwarzkralles Lehren zu eigen gemacht – und die Methoden, mit denen er seine Ziele erreichte.

Es war schon eine ganze Weile her, seit Cygnus seine Energien in Schwarzkralles gnadenlose, ehrgeizige Pläne gesteckt hatte, aber bei Yinze, Flammenschwinges Tod war furchtbar gewesen für ihn! Sie hatte mit Zähnen und Klauen um ihr Leben gekämpft und damit in ihrer Sturheit schreckliches Leiden über sich gebracht, das ihr sonst vielleicht erspart geblieben wäre. Cygnus erinnerte sich noch gut an sie: mit schwarzem Gesicht, würgend und nach Luft ringend, ihre Glieder verzerrt und von Krämpfen geschüttelt, die sie sich unter der Qual ihrer grausamen Schmerzen beinahe gebrochen hätte. Und doch hatte sie aus irgendwelchen inneren Quellen die Kraft gefunden, Schwarzkralle noch mit ihrem letzten Atemzug zu verfluchen.

Später in jener Nacht, in der Verwirrung, die gewöhnlich mit dem Tod einer Königin einherging, war Cygnus davongeschlüpft, um in das gerade erst zurückgekehrte Wüten des Winters hineinzufliegen, bis er in sicherer Entfernung von Aerillia war. Dort hatte er zitternd auf einer verlassenen Turmspitze gekauert und zum ersten Mal begonnen, seine Verbindung mit dem Hohenpriester in Zweifel zu ziehen; aber noch immer, nach alle den vielen Tagen, die seit jener furchtbaren Nacht vergangen waren, hatte er keine Antwort auf die nagenden Zweifel seines Gewissens gefunden.