Elster sah ihn ernst an. »Tapfere Worte, mein Junge, aber kannst du sie auch wahrmachen?« Ihre Augen glitzerten. »Ich möchte, daß du dich um Königin Rabe kümmerst. Sei ihr steter Begleiter, ihr Trost, ihre Stütze. Sie wird nicht leben wollen, Cygnus – und so wird es an dir sein, ihr neuen Lebensmut zu schenken.«
Cygnus keuchte. »Das kann ich nicht! Elster, bitte, verlang etwas anderes von mir. Was könnte ich denn zu ihr sagen? Ich kann ihr nicht ins Gesicht sehen, nicht mit dem Blut ihrer Mutter an meinen Händen.«
»Das ist dein Problem.« Elster war unerbittlich. »Je schwieriger du es findest, um so größer ist deine Chance, dein Vergehen wirklich zu sühnen. Und Cygnus, falls dir dein Leben jemals zu groß erscheinen sollte, versuch dich an ihre Stelle zu versetzen.«
Ihre brutalen Worte raubten Cygnus den Atem. Der niedergeschlagene junge Arzt senkte den Kopf. »Ich werde es versuchen, Elster«, flüsterte er.
»Du solltest es nicht versuchen; du sollst es tun!« sagte Elster brutal. »Das Leben dieses Mädchens liegt in deinen Händen, Cygnus, verpfusch mir die Sache nicht! Du hast schon genug Schaden angerichtet.« Sie schwächte ihre Worte mit einem Anflug von einem Lächeln ab. »Falls es dir ein Trost ist, mein Junge, ich vertraue dir.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, womit ich das verdient habe.« Cygnus blickte noch einmal zu Rabe hinüber. Dann holte er tief Luft und straffte die Schultern. »Aber ich verspreche, Meisterin, daß ich mich deines Vertrauens würdig erweisen werde.«
»Dank sei Yinze, ich habe meinen Schüler wieder.« Elster umarmte den jungen Arzt. Obwohl sein Unglück sie zutiefst betroffen hatte, war seine Gewissenskrise für sie doch eine große Beruhigung. Seine Hinwendung zu Schwarzkralles bizarren Plänen hatte sie schon lange entsetzt, und sie war angeekelt gewesen, als ihr klar wurde, welche Rolle er bei dem Mord an der Königin gespielt hatte. Ich sollte ihn eigentlich hassen, dachte die Meisterin, aber sie kannte die Natur der Himmelsleute und die Schwäche ihres Charakters und wußte daher, daß die Dinge nicht so einfach waren, wie sie aussahen. Sie war davon überzeugt, daß Cygnus dem Bösen noch nicht unwiderruflich verfallen war, und daher war es ihre Pflicht, ihn zu retten, wenn das in ihren Kräften stand, und ihn wieder auf den Weg von Moral und Menschlichkeit zu leiten. Der Gedanke an all das Gute, das er mit seinen Fähigkeiten in Zukunft würde tun können, war genug, um den Versuch zu rechtfertigen; und außerdem hatte sie ihn sehr gern, obwohl sie eher gestorben wäre, als es zuzugeben.
Elster löste die Umarmung und hielt ihren Schüler um Armeslänge von sich weg. »Und jetzt geh und iß etwas«, sagte sie zu ihm. »Laß auch etwas für mich heraufbringen. Und halte dich um jeden Preis von Schwarzkralle fern, bis du wieder soweit bist, daß sich deine Gefühle nicht auf deinem Gesicht widerspiegeln. Du hast heute abend gute Arbeit geleistet, aber leider gibt es für einen Arzt keine Ruhepause. Dein anderer Patient wartet immer noch auf dich, unten in der Höhle.«
Cygnus stöhnte. »Den Zauberer habe ich ganz vergessen!«
»Pst, Junge«, brachte Elster ihn hastig zum Schweigen. »Nicht so laut.«
»Aber Meisterin, ich habe ganz vergessen, dir davon zu erzählen.« Vorsichtig senkte er die Stimme. »Ich habe Schwarzkralle gesagt, seine Krankheit übersteige meine Fähigkeiten, damit der Hohepriester nicht auf die Idee kommen könnte, dich zu töten, nachdem du doch gesehen hattest, was Königin Flammenschwinge zugestoßen war.«
Elster holte tief Luft. »Du hast an mich gedacht?« Sie war erstaunt darüber, daß ihr diese Tatsache so viel bedeutete.
Sentimentale, alte Närrin, schalt sie sich. Dann riß sie sich zusammen und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder ihrem Schüler zu. »Und stimmt das?«
»Ob was stimmt?« Cygnus macht ein verwirrtes Gesicht.
»Daß seine Erkrankung deine nicht unbeträchtlichen Fähigkeiten übersteigt, natürlich.«
»Nein, obwohl ich einen Augenblick lang tatsächlich dachte, es wäre so! Es war ein Fieber, zweifellos durch Kälte und Entbehrungen verursacht; außerdem haben ihn die Tempelwachen ziemlich mißhandelt. Eine Zeitlang wähnte ich sein Leben schon verloren, aber jetzt ist er außer Gefahr.« Zum ersten Mal in dieser langen, harten Nacht gestattete Cygnus sich ein Grinsen.
Elster erwiderte sein Lächeln. »Also, dann geh und kümmere dich um deinen Patienten. Anschließend ruhst du dich etwas aus, und dann kommst du wieder hierher, um bei der Königin zu wachen. Ich werde währenddessen unserem mysteriösen Gast einen Besuch abstatten.« Sie hob die Augenbrauen. »Da ich noch nie einen Menschen gesehen habe, ganz zu schweigen von einem Zauberer, muß ich gestehen, daß ich ein wenig neugierig bin. Ein Zauberer aus einem weit entfernten Land, mit Mächten, wie wir sie uns in unseren kühnsten Träumen nicht vorstellen können …« Sie zuckte mit den Schultern. »Ach, mach dir nichts draus. Denk einfach daran, was er ist, und kümmere dich, so gut du kannst, um ihn. Und um Yinze willen, Junge«, fügte sie im Flüsterton hinzu, »sieh zu, daß du ihn für unsere Seite gewinnst.«
Cygnus nickte. Dann zögerte er kurz und schaute noch einmal zur Königin hin. Trauer und Zorn zerrissen seine Eingeweide wie ein Messer. »Meisterin, wird sie wieder gesund werden?«
In diesem Augenblick schien Elster plötzlich so sehr zu altern, daß es dem jungen Arzt schon leid tat, daß er überhaupt gefragt hatte. »Ihr Körper? Ja, der wird es überstehen. Ihr Geist? Yinze allein weiß, was damit geschehen wird.«
14
Wettstreit der Königinnen
Shia hatte Incondors Turm bereits weit hinter sich gelassen, und kletterte jetzt mühsam durch die endlose Kette von Tälern im Herzen der Berge. Das Gehen fiel ihr immer schwerer, denn der Schnee wurde tiefer, und die beißende Kälte nahm noch zu. Es war eine unfruchtbare, bedrohliche Landschaft mit zerklüfteten, hoch aufragenden Felsenspitzen und bodenlosen Schluchten, durch die der Wind heulte – ein Geräusch, das wie die Todesklage von tausend dahingemordeten Katzen klang.
Zunächst fand Shia immer noch Zuflucht in Höhlen und Felsspalten, die einen gewissen Schutz vor dem gnadenlosen Wind und seiner unerbittlichen Schneelast boten. Dankbar suchte sie dort Zuflucht und machte das Beste aus jeder Möglichkeit, sich von ihrem endlosen Kampf mit den Bergen auszuruhen. Manchmal fand sie etwas Wild, um ihren unbarmherzigen Hunger zu stillen – magere Hasen oder Schneehühner und gelegentlich auch ein verirrtes Schaf oder eine Ziege waren ihre Beute. Aber als die Katze immer weiter ging, wurden die schützenden Höhlen immer seltener, und der Schnee türmte sich auf den steinigen Pfaden und Felsvorsprüngen höher und höher, bis sie schließlich nur noch im Schneckentempo vorwärtskam und jeder neue Schritt eine noch größere Qual war als der vorherige.
Shia schmerzten vom langen Tragen des Erdenstabes der Nacken und das Maul. Seine Magie durchfuhr sie und sandte Ströme prickelnder Zauberkraft durch ihren Körper, um sie zu schwächen und ihr instinktives Gefühl für die richtige Richtung zu stören. Ihr Maul war dort, wo ihre Kiefer sich um den Stab schlossen, nur noch eine einzige Masse von Blasen und verkrusteten Wunden, was ihr das Jagen und Fressen der ohnehin seltenen Beute noch erschwerte. Nahrung war rar und auf diesem eiskalten Dach der Welt nur schwer zu finden. Tag um Tag wurde die große Katze magerer und hohläugiger; eine zottige, schwarze Vogelscheuche, die nur noch aus Haut und Knochen bestand. Da ihr selbst zum Nachdenken die Energie fehlte, zog sie sich einfach Schritt für Schritt weiter, den Erdenstab mit einem Maul umklammert, das vollkommen starr und halb erfroren war. Nachts machte sie sich Schneenester, um ihre Körperwärme zu bewahren, aber sie hörte keinen Augenblick auf zu zittern und wünschte, daß Bohan und Anvar neben ihr lägen und daß sie Aurian eng an sich drücken könnte, damit sie sich gegenseitig wärmten.
Während die Zeit weiter fortschritt, nahm Shias Elend ein solches Ausmaß an, daß sie schließlich glaubte, sterben zu müssen. Einmal stolperte sie in einer Art Wachtraum vor sich hin und dachte, Anvar gehe neben ihr her, und er starb. Dennoch fand er Zeit, ihr eine Reihe sinnloser Menschenfragen zu stellen, die sie über alle Maßen verärgerten. Sie befahl ihm mit unmißverständlichen Worten, mit seinem Unsinn aufzuhören und wieder zurück in seinen Körper zu gehen, was er anscheinend auch getan hatte – oder zumindest hoffte sie, daß er es getan hatte.