Als Anvar verschwand, brachen Shias scheinbar knochenlose Beine unter ihr zusammen, und sie lag eine Zeitlang zitternd vor Schreck da und fragte sich, ob es wahr sein konnte. Sie hatten hellseherische Kräfte, diese Magusch, und man konnte nie vorhersagen, wie sie sich verhalten würden – aber eines stand fest. Wenn Anvar tatsächlich am Rande des Todes gestanden hatte, dann hatte sie ihn dort nur sehen können, weil sie sich in einer ähnlichen Lage befand!
Mit einer gewaltigen Anstrengung gelang es ihr, ihre Kiefer von dem Stab zu lösen und einen Blick empor in den bleischweren Himmel zu werfen. Sterben? Aber das kann ich nicht. Ich habe es Aurian versprochen. Schwarze Punkte wirbelten vor ihren Augen. Erst als ein schriller Schrei von oben in ihr verwirrtes Gehirn drang, begriff sie, daß die schwarzen Punkte wirklich existierten. Shia spürte, wie ihr Herz mit einem Ruck wieder zum Leben erwachte. Adler! Und wenn Adler kreisten … Die große Katze nahm den Stab wieder auf und trottete weiter. Schon jetzt lief ihr das Wasser im Mund zusammen.
Lediglich die Furcht der großen Vögel vor dem unheimlich glühenden Erdenstab ermöglichte es Shia, sie so mühelos aufzuscheuchen. Sonst hätte sie sich vielleicht zu ihnen gesellt und sich mit ihnen zusammen über den zerschlagenen, gefrorenen Leichnam des Schafes hergemacht. Shia, die der Schmerz in ihren wunden Kiefern zusammenzucken ließ, spuckte eine Locke fettiger, zerzauster Wolle aus und riß sich einen Brocken eisigen Fleisches heraus, das in ihrem Mund zerschmolz – es war wenig, aber herrlich saftig. Nach den ersten Bissen spürte sie eine neue Energie, die wie eine Feuerfontäne in ihrem Innern explodierte, und machte sich nun ernsthaft über ihr Mahl her, wobei sie ihr Glück pries und die Dummheit dieser Pflanzenfresser, die auf der Suche nach ein wenig Grünzeug über schmale Felsbänke wanderten und sich so in eine Sackgasse brachten, aus der es kein Entrinnen mehr für sie gab. Es war ihnen offensichtlich nicht möglich, sich umzudrehen oder einfach rückwärts zu gehen, also gerieten sie entweder in Panik und stürzten in die Schlucht hinunter, oder sie blieben so lange an Ort und Stelle, bis sie schließlich entkräftet abstürzten – eine Dummheit, für die Shia im Augenblick zutiefst dankbar war. Als sie ihren geschrumpften Magen gefüllt hatte, suchte sie sich eine Nische in den Felsenspalten und zog den Stab und die Überreste des Schafs hinein. Sie hatte soviel gegessen, daß sie zum ersten Mal seit Tagen der Kälte trotzen und wirklich gut schlafen konnte.
Während sie jedes Gefühl dafür verlor, wo sie war, begannen ihre Gedanken umherzustreifen … Zurück in ihre Kätzchenzeit, zu ihrer ersten Paarung, zu dem gewaltigen Kampf, der sie zum Ersten Weibchen der Kolonie gemacht hatte … Zurück zu dem Tag, als die Khazalim sie mit Bögen und Speeren angegriffen hatten und sie sich selbst geopfert hatte, um ihre Jungen und ihr Volk zu retten … Zurück zu ihrer Gefangenschaft und den Tagen der Verzweiflung, des Zorns und des Hasses, zu den Qualen der Arena … Zurück zu dem Kampf mit Aurian und der unglaublichen Erleichterung, einen Geist zu finden, mit dem sie sich verständigen konnte, und zurück zu den Freuden der Freundschaft und der Freiheit …
Es war nur der Gedanke an ihre verzweifelten Kameraden, der Shia in den folgenden Tagen aufrecht hielt. Es war lebenswichtig, daß sie einen Weg fand, Anvar zu retten, denn sonst würde Aurian niemals entkommen können. Der Erzmagusch würde ihr Kind ermorden, und Aurian selbst würde ihm für immer ausgeliefert sein – oder von ihm zerstört werden, wenn sie sich weigerte, seinen Plänen zuzustimmen.
Shia war hin- und hergerissen. Sie hatte nie von einem direkten Weg nach Nordwesten gehört. In dieser Richtung wurden die Berge immer höher, steiler und undurchdringlicher. Tatsächlich konnte nur das Himmelsvolk dort leben, und genau dort war seine Bevölkerung auch am dichtesten. Seit vielen langen Zeitaltern waren die Geflügelten bittere Feinde von Shias Volk gewesen; sie wagte es nicht, das Risiko einzugehen, diesen direkten Weg zu nehmen. Daher blieb ihr nur der Weg, den sie kannte, der westliche Paß, der von der zerstörten Stahlklaue ausging; ein umständlicherer Weg und außerdem einer, der direkt durch das Territorium der großen Katzen führte.
Auf all ihren Reisen mit Aurian hatte Shia davon geträumt, nach Hause zu gehen. So sehr sie ihre Freundin und Anvar liebte, vermißte sie doch ihre eigene Rasse. Und jetzt, da sie endlich aus dem Exil heimkehrte, konnte sie nicht bleiben. Oh, sie hätte ihre Aufgabe vergessen können, hätte den Stab einfach in der nächsten Schlucht – es gab ja genug davon – fallenlassen und ihres Weges gehen können. Aber damit hätte sie nicht leben wollen.
Das Hauptproblem, dachte Shia ein wenig gequält, würde ihr eigenes Volk darstellen. Der Weg nach Aerillia führte durch das Land der Katzen, und die Katzen bewachten ihr Territorium auch mit großer Eifersucht vor den Chueva, den einsamen Wanderern ihrer eigenen Spezies, die nicht zur Kolonie gehörten.
Diese bemitleidenswerten Ausgestoßenen führten ein einsames Leben in den Bergen, das für gewöhnlich nicht sehr lange währte. Es waren die Katzen, die die Kolonie nicht haben wollte, die schwachen, die alten und in Zeiten größter Not sogar die ganz jungen. Diejenigen, die sich um die Führung beworben hatten und besiegt worden waren, waren Chueva; diejenigen, die das Gesetz der Kolonie überschritten hatten; diejenigen, die den niedrigsten Rang hatten, die verstoßen worden waren, als die Zeiten hart und die Vorräte gering waren. Von denen würde es jetzt sicher viele geben, dachte Shia. Dieser furchtbare, unnatürliche Winter mußte große Not über die Kolonie gebracht haben, genauso wie er das Himmelsvolk ins Elend gestürzt hatte. Die Sitte, diejenigen Mitglieder der Gesellschaft zu verstoßen, die nur eine Last waren, hatte ursprünglich dem Erhalt der Gemeinschaft gedient, eine Befreiung von den Schwachen und Nutzlosen, damit die Kolonie gesund und stark genug blieb, um in ihrer unerbittlichen Umgebung überleben zu können. Aber vielleicht, so überlegte Shia, ging diese Sitte mittlerweile zu weit. Also wirklich, dachte sie mit einem Anflug von Überraschung, ich bin ja jetzt auch eine Chueva! Ich bin einer von diesen armen, einsamen Aasfressern, ich, die ich einst die Erste war.
Die große Katze wußte, daß sie gemäß den Sitten ihres Volkes gezwungen sein würde, gegen die augenblickliche Erste zu kämpfen, um zu Anvar zu gelangen – und wehe ihr, wenn sie versagte, denn selbst wenn sie den Kampf überleben sollte, würden die Katzen ihr auf keinen Fall gestatten, ihr Land zu durchqueren. Und seht mich doch an, dachte Shia verzweifelt. Eine Chueva, wie sie im Buche steht! Erschöpft und halb verhungert, wie ich bin; welche Chance habe ich da gegen einen so starken Gegner, gegen das mächtigste Weibchen in der Kolonie?
Shia war jetzt seit mehr als einem halben Mond unterwegs. Sie war sorgfältig um die östlichen Grenzen des Territoriums der Geflügelten herumgewandert und hatte schließlich die höchsten Pässe erreicht, die über die Gipfel der nördlichen Bergkette führten. Der Wind hier oben war so stark, daß sie sich kaum auf den Beinen halten konnte, und der Schnee fiel so dicht, daß sie nur mit knapper Not die Enden ihrer Barthaare sehen konnte. Die große Katze zögerte. Einen solchen Sturm konnte doch gewiß niemand überleben? Dennoch sagte ihr Instinkt ihr, daß das Unwetter weiter taleinwärts genauso schlimm sein mußte. Es hatte keinen Sinn, zurückzugehen, denn dort, wo sie hergekommen war, gab es keine Höhle, nichts, was ihr Schutz geboten hätte. Sie war über zerklüfteten, mit Rissen durchzogenen Boden gegangen, vorbei an Abgründen, die sich für eine Katze, die den Weg nicht sehen konnte, vielleicht als tödlich erweisen würden.