Выбрать главу

»Also weiter!« Shia erschrak über ihre eigene Stimme. »Wenn du hierbleibst, wirst du erfrieren und sterben, und was wird dann aus deinen Menschenfreunden werden? Alles hängt von dir ab.«

Schneeblind und schneetrunken taumelte die große Katze vorwärts und dachte an nichts anderes als daran, einen müden Fuß vor den anderen zu setzen. Wenn sie es nur schaffen konnte, immer weiter zu gehen, hatte sie vielleicht eine Chance.

Stunden vergingen in einem immer gleichen Alptraum. Schritt für Schritt taumelte Shia durch das Wüten des Unwetters und war sich nicht einmal sicher, daß sie sich in die richtige Richtung bewegte, obwohl es deutlich bergauf ging. Irgendein tief in ihr eingegrabener Instinkt bewirkte, daß sie den Stab nicht losließ; ein unbesiegbarer Selbsterhaltungstrieb ließ sie jeden ihrer Schritte vorsichtig abwägen, damit sie nicht blind in eine Felsspalte stürzte. Ansonsten nahm Shia nichts um sich herum wahr. Sie dachte auch weder an sich selbst noch an ihr Volk, sondern an Aurian, an Anvar und an ihren Freund Bohan, der sie immer auch ohne Worte verstanden hatte. Für sie lief Shia weiter, ging sie auf einem Drahtseil des Lebens, in einer Situation, die sie beim ersten Fehltritt das Leben kosten konnte.

Der Schneesturm hörte so plötzlich auf, daß sie es zuerst gar nicht bemerkte. Shia hatte keine Ahnung, wie lange sie sich grimmig durch den Schnee gepflügt hatte, während ihre Augen blind auf ihre dahintrottenden Füße geheftet waren und sie ihren müden, durchgefrorenen Körper durch brusthohen Schnee getrieben hatte. Plötzlich blickte sie auf, blinzelte mit von Rauhreif überzogenen Augen und entdeckte, daß der Schnee verschwunden war und sie endlich wieder sehen konnte. Aber was noch wichtiger war, sie hatte das Ende des Passes erreicht. Vor ihr lagen das zerklüftete, zerstörte Gesicht der Stahlklaue und das Land ihres Volkes. Als sie die vertraute Gestalt Stahlklaues sah, zog sich Shias Herz zusammen. So viele Erinnerungen! Endlich war sie wieder zu Hause; aber trotzdem war sie nach wie vor eine Verbannte.

»Halt ein, Fremde!«

Shia erstarrte, eine Pfote mitten in der Luft. Die Wächter stürzten sich auf sie, einer von einer Felsspalte hoch oben auf dem Kliff über dem Hohlweg; der andere kam hinter einem zerklüfteten, mit Felsbrocken übersäten Hügel hervor. Shia ließ den Stab fallen und schnupperte. Ihre Schnurrbarthaare richteten sich nach vorn, um Temperatur und Windrichtung festzustellen. Es konnte nur nützlich sein, in Erfahrung zu bringen, wer ihre Widersacher waren.

Die beiden schwarzen Weibchen, anmutig und muskulös, stolzierten auf sie zu, und das Fell auf ihrem Rücken hatte sich zu einem bedrohlichen Kamm aufgestellt. Eine der Katzen war eine Fremde für Shia, eine junge Katze noch, geschmeidig, zart und drahtig und mit den leichtfüßigen Bewegungen einer Tänzerin. Die andere war kräftiger gebaut, mit mächtigen Schultern und einer dicken Haarmanschette um den Hals, fast wie ein Männchen. Shia, die die Woge freudigen Wiedererkennens verbarg, die sie durchflutete, sah der älteren Katze in die Augen – eine bewußt herausfordernde Geste. »Erkennst du mich nicht, Hreeza? Du, die Höhlengefährtin meiner Mutter?«

Die alte Katze zog ihre grau gefleckte Schnauze kraus und bleckte schnaubend ihre Reißzähne. »Meine Höhlengefährtin hat gut und oft geworfen. Erwartest du etwa, daß ich mich an jedes einzelne Kätzchen erinnere? Ich weiß nicht, wer du bist, Fremde.«

»Was? Du vergißt eine Katze, die du selbst aufzuziehen geholfen hast?« Shia legte die Ohren flach an den Kopf. »Lüg mich nicht an, Hreeza – nicht einmal, um dein Gesicht zu retten.«

»Wirst du ihr gestatten, so mit dir zu sprechen?« Die Augen der jungen Katze in ihrer Begleitung flammten wütend auf, als sie Hreeza ansprach. »Und was für ein widerwärtiges Ding ist das da?« Vorsichtig beschnupperte sie den Erdenstab, wobei sie gut aufpaßte, daß sie ihm auf keinen Fall zu nahe kam.

Hreeza drehte sich, eine Tatze drohend erhoben, zu ihr um. »Halt dich da raus«, zischte sie. Zögernd ging sie auf Shia zu und senkte den Kopf, um ihr Gesicht an dem Shias zu reiben. »Ich habe nicht gedacht, daß ich dich jemals wiedersehen würde.« Ihre Gedankenstimme war schroff vor Rührung.

»Genausowenig, wie ich damit gerechnet hätte, dich je wiederzusehen.« Shia schnurrte vor Freude, aber die ältere Katze fühlte sich offensichtlich unwohl, und Shia erriet, daß der Hauptgrund für Hreezas Zurückhaltung der Stab war. Und tatsächlich sah die frühere Höhlengefährtin ihrer Mutter sie fragend an.

»Was ist das für ein Ding?« wollte sie wissen.

Shia tat ihr Bestes, möglichst unbesorgt dreinzuschauen. »Abscheulich, was?« sagte sie strahlend. »Menschenunfug natürlich. Das Ding ist bald wieder weg, Hreeza, das verspreche ich dir. Dein Volk braucht sich keine Sorgen deswegen zu machen. Sag, wer ist im Augenblick die Erste?« fügte sie mit leiser Stimme hinzu.

»Gristheena!« Das Wort war ein Zischen. »Shia, willst du etwa einen Wettkampf um die Herrschaft? In deinem Zustand?«

Shia zuckte in Gedanken die Achseln. »Warum sonst sollte ich zurückkehren?«

‘ »Shia, das kannst du nicht!«

Die große Katze seufzte – eine schlechte Angewohnheit, die sie von ihren Menschenfreunden hatte. »Es ist vielleicht nicht nötig. Ich hoffe sogar, daß es das nicht ist, denn wie du schon sagtest, ich bin nicht in der Verfassung zu kämpfen. Aber ich habe ein Versprechen zu halten – eine Ehrenschuld. Es geht um eine Freundin, die mir das Leben gerettet hat. Alles, was ich will, ist die Erlaubnis, unbehelligt durch euer Land wandern zu dürfen. Ich brauche lediglich Gristheenas Zustimmung.«

Hreeza fauchte. »Du weißt, daß sie dir die nicht geben wird. Du hast uns alle vor den Menschenjägern gerettet, Shia, mit deinem Mut und deiner Opferbereitschaft. Für Gristheena wirst du immer eine Rivalin und eine Bedrohung sein. Wann sollte sich ihr eine bessere Gelegenheit bieten als jetzt, um dich ein für allemal loszuwerden, während du in diesem geschwächten und erschöpften Zustand bist? Kehr zurück, ich bitte dich, bevor sie herausfindet, daß du hier bist.«

Zu spät. Shia warf einen bedeutungsvollen Blick über Hreezas Schulter. Die jüngere Katze war verschwunden.

Obwohl die Vegetation auf den niedrigeren Hängen von Stahlklaue bei der Verwüstung, die den Berg zerstört hatte, abgebrannt war, hatte schließlich doch neues Wachstum eingesetzt. Vor diesem Winter hatte ein üppig grüner Saum aus Espen, Pinien und Bergeschen die Füße und Knie des Berges eingehüllt. Gescheckte Hirsche hatten sich an seichten Waldteichen getränkt, und Lachse waren wie kleine Regenbogen durch die silberne Gischt der munteren Bäche gehüpft. Die Wälder waren wieder lebendig gewesen, mit Vogelgesang und Eichhörnchen, die flink und anmutig von Ast zu Ast sprangen.

Jetzt erkannte Shia ihre Heimat kaum wieder. Hreeza hatte sie zwischen umgestürzten, vom Frost gespaltenen Bäumen hindurch den Berg hinaufgeführt. Die Baumstämme lehnten wie tote schwarze Stöcke aneinander und stöhnten unter ihrer Schneelast. Die Bäche und Teiche waren in einem Gefängnis aus Eis eingeschlossen. Kein Tier bewegte sich in dem spröden, kalten Unterholz oder huschte durch die herabhängenden Äste. Alles war ruhig, still und tot, alle Farbe, alles Leben, alle Hoffnung im Würgegriff der weiß gepanzerten Faust des Winters. In diesen niedrigeren Regionen bestand keine Notwendigkeit für Heimlichtuerei. Hier unten jagten im Augenblick keine Katzen mehr. Welchen Sinn hätte das auch gehabt? Shia und Hreeza hätten die einzigen lebendigen Geschöpfe auf der Welt sein können. Hatte die große Katze auch nur einen Augenblick in ihrer Entschlossenheit geschwankt, Aurian und Anvar zu helfen, nun waren all diese Gedanken mit einem Mal verschwunden. Sie umklammerte den Stab der Erde noch fester mit ihren Kiefern, stieß tief in ihrer Kehle ein leises Fauchen aus und schwor demjenigen, der ihrem Land das angetan hatte, ewige Rache.