Выбрать главу

Der abgeflachte Gipfel von Stahlklaue war verwüstet und von einem Labyrinth von Schluchten und Höhlen zerfressen. Dort wo dicke Erzadern geschmolzen und in der gewaltigen Hitze der Zerstörung des Berges ausgelaufen waren, durchzogen Risse und Spalten des Fels. Nicht, daß die Katzen sich der unglücklichen Geschichte Stahlklaues bewußt gewesen wären, sie hatten lediglich entdeckt, daß der Gipfel ein sicherer und geeigneter Ort war, um ihre Jungen aufzuziehen.

Hreeza lebte noch immer in derselben alten Höhle, eine Grotte, von der aus man eine dunkle, steinige, schmale Mulde erreichen konnte, in der Shia geboren und aufgewachsen war. Als sie über die felsige Türschwelle trat, fluteten die Erinnerungen zurück: an ihre Mutter Zhera, die schon vor langer Zeit von jagenden Himmelsleuten getötet worden war, und an ihre beiden Geschwister, einen Bruder und eine Schwester, die beide bei dem Überfall der Khazalim ums Leben gekommen waren, bei dem Shia gefangen worden war. Entschlossen schüttelte die große Katze die Erinnerungen ab. Sie hatte jetzt keine Zeit für solche Gedanken.

Hreeza grub im hinteren Teil der Höhle in einem Haufen aus Dreck und Steinen und tauchte binnen weniger Augenblicke wieder auf – mit dem Kadaver einer Bergziege. »Hier«, befahl sie. »Iß! Du hast nicht viel Zeit.«

Shia betrachtete die tote Ziege verblüfft und fiel dann auf Hreezas Drängen hin heißhungrig darüber her. »Du bist ja gut ausgerüstet«, sagte sie. »Ich hatte schon Angst, daß dieser grausame Winter die Kolonie in Not und Elend stürzen würde.«

Hreeza leckte an einer von Shias zerschnittenen Pfoten. »Es hat große Not gegeben«, sagte sie mit rauher Stimme. »Gristheena hat viele der unseren zu Chueva gemacht – meistens handelte es sich dabei um ihre eigenen Feinde.« Sie spuckte aus. »Außerdem haben uns die Geflügelten so oft angegriffen, um unsere Felle zu erbeuten, bis schließlich nur noch eine Handvoll von uns übriggeblieben ist.«

»Aber wie ist dann das da möglich? Eine ganze Ziege?« Shia zeigte auf das, was von dem Tier noch übriggeblieben war. In Gedanken spürte sie Hreezas Schulterzucken.

»Wir hatten Glück«, sagte die ältere Katze. »Vor einigen Tagen gab es an der Westseite des Berges eine Lawine, die eine ganze Herde dieser törichten Geschöpfe heruntergerissen hat; wir mußten sie nur noch ausgraben. Für kurze Zeit hat es genug für alle gegeben.«

Dann schwieg sie eine Weile und massierte Shia, während diese aß. Schließlich kehrte die Wärme in die Muskeln der großen Katze zurück. »Shia, wie kommt es, daß du zu uns zurückgekehrt bist?« fragte sie endlich. »Wie konntest du fliehen?« Sie zeigte mit dem Kopf auf den Stab der Erde, der pulsierend und wie eine grazile, grüne Schlange in der Ecke lag. »Und wie bist du in den Besitz dieses abscheulichen Dings gekommen?«

Shia, die jetzt gesättigt war, wurde langsam schläfrig. »Es ist eine lange und unglaubliche Geschichte«, begann sie verträumt, als plötzlich …

»Komm raus, Feigling, und kämpfe!« Der Ruf der Herausforderung – ein langes, schauerliches Heulen – erscholl vor der Höhle. Shia fauchte, und die Haare entlang ihres Rückgrats stellten sich plötzlich auf. »Ich wußte, daß sie nicht lange brauchen würde«, sagte sie gelassen. Dann erhob sie sich steif und lief zum Höhleneingang. »Thronräuberin, ich komme!« brüllte sie.

Bei dem gewaltsamen Angriff auf Stahlklaue hatte die Macht der Zerstörung das Zentrum des Gipfels ausgehöhlt, so daß jetzt nur noch klauenartige, dünne Felswände in den Himmel ragten, als versuchten sie vergeblich, nach den Wolken zu greifen. In ihrem Schatten lag, wie die Innenfläche einer riesigen, greifenden Hand, eine schalenförmige Vertiefung; ihr Boden war buckelig und an manchen Stellen von glatten Rinnsalen geschmolzener und wieder geronnener, schwarzer Lava durchzogen.

Unbemerkt auf seinem erhöhten Platz saß Khanu und leckte sich auf einem Felsvorsprung über der Schlucht, die seit zahllosen Generationen den Weibchen der Kolonie als Versammlungsort gedient hatte, seine Wunden. Er hätte eigentlich gar nicht hier sein dürfen; das war kein Ort für die Männchen und schon gar nicht für die jungen, unwichtigen unter ihnen, aber Khanu hatte in diesem kleinen Akt des Trotzes Linderung für seinen schrecklich verletzten Stolz gefunden. Heute hatte er den ehrgeizigen Versuch unternommen, sich mit Gristheena, der Ersten, zu paaren, deren bisheriger Gefährte bei dem letzten Angriff der Geflügelten getötet worden war. Zu seinem unaussprechlichen Entsetzen hatte er sich seinen Weg durch ein Gedränge älterer, erfahrenerer Bewerber gebahnt, nur um dann schmählich und schmerzhaft – Khanu zuckte zusammen, als er sich seine Pfote leckte, um die brennenden Klauenabdrücke auf seiner Nase zu säubern – von dem Weibchen zurückgewiesen zu werden.

Die Abenddämmerung füllte den verschneiten Kampfplatz in der Schlucht mit Schatten, aber Khanu unternahm keinen Versuch, sich zu entfernen, obwohl er schrecklich fror. Neben seiner Demütigung durch die Erste seines Volkes hatte er noch etwas anderes zu verdauen. Mit seiner Zurückweisung und Gristheenas offenem Hohn war die niederschmetternde Erkenntnis gekommen, daß er für seine Kolonie lange nicht so wichtig war, wie er früher gedacht hatte.

»Aber ich verstehe es einfach nicht«, murrte Khanu schmollend vor sich hin. »Männchen sind großer, Männchen sind stärker. Wir haben die Wahl bei den ersten Früchten der Jagd, und die Weibchen stehen daneben, bis wir gegessen haben.« Während die Junggesellen in einer lockeren Gemeinschaft lebten, bis es ihnen gelang, sich eine eigene Gefährtin zu erringen, wählte jedes der älteren und stärkeren Männchen sich seine eigene Schar von Weibchen – zumindest hatte Khanu das bis zum heutigen Tage angenommen. Jetzt, so schien es, stand seine Welt plötzlich auf dem Kopf.

Die Männchen jagten nicht und trugen nichts zum Unterhalt der Kolonie bei. Sie saßen nicht auf dem Versammlungsplatz und machten auch nicht die Gesetze zum Wohlergehen aller. Männchen spielten keine besonders nützliche Rolle bei der Aufzucht und Ernährung der jungen Katzen. Männchen, so hatte es sich herausgestellt – und Khanu zuckte bei der Erinnerung daran zusammen –, Männchen wählten nicht einmal selbst ihre Gefährtinnen. Oh, sie kämpften wild um das Privileg; aber die letzte Wahl traf, wie Gristheena ihm mit größtem Nachdruck klargemacht hatte, immer das Weibchen.

Nach seiner Zurückweisung war Khanu zu seinem Erzeuger Hzaral gegangen. Hzaral, mittlerweile ein von unzähligen Narben entstellter und beinahe zahnloser Alter, hatte viele Paarungskämpfe hinter sich gebracht und schon vor langer Zeit beschlossen, sich aus dem wilden Treiben zurückzuziehen, das mit dem Wettbewerb um die Gunst der Ersten verbunden war. Er war glücklich und zufrieden mit seinen beiden eigenen alternden Gefährtinnen, von denen eine Khanus Mutter war.

»Ist das wahr?« hatte Khanu gefragt und erbittert die ganze Schmach herausgesprudelt, die ihm widerfahren war. Hzaral hatte seinen massigen, mit goldenen Strähnen durchzogenen Kopf geschüttelt und sich darangemacht, seine ebenfalls goldgescheckten Flanken zu putzen – auffällige Kennzeichen, die sein Sohn geerbt hatte.

»Und wenn es so ist?« hatte er geduldig gesagt und sich dabei umgedreht, um den jüngeren Kater mit seinen topasfarbenen Augen zu mustern. »Denk doch nach. Wir sind Männchen. Warum sollten wir uns mit der Jagd abplagen, wenn die Weibchen das für uns tun können? Warum sollen wir unsere Zeit damit verschwenden, uns den Kopf über ihre lächerlichen Gesetze zu zerbrechen, oder uns mit ungebärdigen, kreischenden Katzenkindern abgeben? Wenn die Weibchen glauben, so ein Unfug würde sie besonders wichtig machen – sollen sie doch. Wer will da schon etwas ändern? So, wie es ist, kommen wir doch bestens zurecht.«

»Aber wir tun doch überhaupt nichts!« hatte Khanu protestiert. »Vor allem in diesen Zeiten der Not sollten wir …«

So schnell, daß man es kaum sehen konnte, hob sich Hzarals große Tatze, und Khanu bekam einen Klaps hinter die Ohren, dessen Wucht so groß war, daß er sich mehrmals überschlug. »Lerne Weisheit, mein Junge!« fauchte Hzaral. »Die Männchen sind glücklich und zufrieden mit den Dingen, so wie sie sind, und ich nehme an, das gleiche gilt für die Weibchen. Kannst du dir vorstellen, daß Gristheena dir erlauben würde, ihre Autorität zu untergraben? Jeder hat seinen Platz – wie kannst du es wagen, das verändern zu wollen? Willst du vielleicht als Chueva enden?«