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Die Spitze dieses Turms war irgendwann in lang vergangener Zeit ausgehöhlt worden, um einen Horst zu bilden, offen für die Elemente, mit Wänden aus Luft und einem Steindach, das auf vier schlanken Säulen ruhte. Diese Kammer der Winde war nur über eine viel zu schmale Treppe aus langsam verwitternden Stufen zu erreichen, die in die steinerne Oberfläche des Berges hineingehauen und durch eine Hängebrücke aus geflochtenem Seil mit dem Turm verbunden war. Nur ein Windauge konnte den riskanten Aufstieg bewältigen und den gefährlichen Weg über die Brücke wagen. Nur ein Windauge würde eine Notwendigkeit dazu sehen.

Der schneidende Wind zerstob das dunstige Gewebe von Chiamhs Schattenmantel und wirbelte ihm Graupelschauer ins Gesicht, während er zusammengekauert und frierend auf dem kalten Steinboden der Kammer hockte. Er versuchte, das Wüten des Sturms zu ignorieren und sich ins Bewußtsein zu rufen, daß er das Windauge der Xandim war – gesegnet (oder verflucht) mit der Macht, die Dinge sehen zu können, die jenseits der Sehkraft normaler Menschen lagen, die Kunde der Winde wahrzunehmen und zu verstehen. Dieser Sturm, das wußte er, trug mehr Botschaften mit sich als gewöhnlich. Die gequälte, schreiende Luft war erfüllt von bösen Vorzeichen schlimmer Ereignisse.

Der Sturm zerrte an seinem durchnäßten, zitternden Leib, klebte ihm sein zerzaustes, braunes Haar aufs Gesicht, und der junge Seher zuckte zurück vor der bösen Macht, die den Wind ritt – wie ein Schatten dunkler Schwingen. Die Macht kam von Norden und hatte ihn seit dem Ausbruch des Winters in seinen Alpträumen heimgesucht. Schlanke, starke Finger hatte der Wind, Finger, die sich mit eiszapfenscharfen Nägeln in sein Fleisch gruben, und Augen, in denen die gnadenlose Kälte ewigen Winters lag, glitzerten in der Dunkelheit. Silbernes Haar floß wie ein tödlicher Gletscher herab, als die schneebeladenen Winde das Bild eines Gesichts formten: makellos schön, mit kalten, zu einem grausamen, höhnischen Lächeln verzogenen Lippen. Ihr Blick glitt über ihn hinweg, unbewußt und leidenschaftslos, aber qualvoll wie eine Klinge, die über seine zurückschaudernde Haut strich. Trotz des windgesponnenen Mantels aus Schatten, der ihn einhüllte, zitterte er. Wenn sie ihn fand …

Chiamh kauerte sich auf der offenen Plattform zusammen und zog sich soweit wie möglich in die unauslotbaren Tiefen seines Schattenmantels zurück, bis der dunkel-helle Schatten ihrer Gegenwart sich jenseits des Berges entfernte. Heute abend würde es noch mehr davon geben, das wußte er. Irgend etwas hatte ihn aus seinem Bett gezwungen und an diesen einsamen, eiskalten Ort getrieben, hatte ihn gezwungen, sich dem Entsetzen des Vorüberstreichens der Schneekönigin zu stellen. Nun drehte das Windauge dem bösen Nordwind den Rücken, zu und richtete, wie das untere Ende einer Kompaßnadel unweigerlich nach Süden gezogen, seinen verschwommenen, kurzsichtigen Blick auf die Berge.

Das Gefühl, sich in Kälte aufzulösen, überflutete ihn wie eine Woge eisigen Wassers. Chiamh spürte, wie seine kurzsichtigen, braunen Augen schmolzen, glasig wurden, sich in leuchtendes Quecksilber verwandelten, als seine Andersicht die Kontrolle übernahm. Die Nacht um ihn herum wurde hell und klar, die Berge verwandelten sich von der dichten, steinernen Masse in glitzernde, durchsichtige Prismen; die peitschenden Winde wurden zu stürmischen Flüssen aus silbernem Licht. Das Windauge hielt in Panik den Atem an und kniff seine trügerischen Augen fest zu. Obwohl er diese Fähigkeit seit seiner Kindheit besaß, würde er sich niemals an diese beängstigende Verwandlung gewöhnen.

Die Verlockung der Vision trieb ihn weiter, verlangte, daß er ihr folgte. Chiamh biß sich auf die Lippen und bestach seine undisziplinierte Angst mit dem Versprechen eines Kruges Wein, sobald er von diesem schrecklichen Ort zurückgekehrt war. Ihm war, als höre er die Stimme seine geliebten Großmutter aus der Vergangenheit zu ihm sprechen: »Iß dein Fleisch, Chiamh – dann bekommst du auch die Honigwabe!« Wie immer nahm ihm die Erinnerung an sie ein wenig von seiner Furcht, und Chiamh lächelte. Was für eine wilde, alte Dame sie gewesen war. Wie weise! Wie stark! Eine geborene Kriegerin und das größte Windauge in der Geschichte der Xandim. Sie hatte diese Last getragen, ohne mit der Wimper zu zucken, und nun war es an ihm, ihrem Erben, sie zu tragen. Chiamh strich mit vor Kälte steifen Fingern das Haar aus dem Gesicht, öffnete die Augen und richtete den durchdringenden Silberstrahl seiner Andersicht auf die andere Seite der Berge.

Nachdem er seinen erdgebundenen Körper abgestoßen hatte, riß sein Geist sich los, schwang sich empor und ritt auf dem ungebärdigen Wind, um seine Vision zu verfolgen. Wie ein Regenbogen aus Edelsteinen wirbelten die durchsichtigen Berge unter ihm dahin. Die Funken eines prasselnden Freudenfeuers brannten ihm in den Augen, jeder Funke wie eine strahlende, lebende Seele. O Göttin – das mußte Aerillia sein, die Zitadelle des Himmelsvolks. Er war zu weit von seinem Weg abgekommen … Außer Kontrolle … Weit über die Berge hinaus bis zu dem kristallenen Spitzenwerk des Waldes dahinter, mit seinem funkelnden Hintergrund von Wüstensand …

Unendliche Weiten entfernt, in der Kammer der Winde, setzte in Chiamhs Körper für einen Moment lang der Herzschlag aus. Noch mehr Mächte! Noch eine böse Macht wie eine dunkle, sich windende Wolke – und zwei andere Mächte, weit hinten im Süden in dem Wald jenseits des Berges. Ihr Licht leuchtete klar und hell, und sie waren vereint in Liebe und Ehrlichkeit und der Klarheit ihrer Ziele – dann plötzlich waren sie fort, verfinstert durch die Woge einer schwarzen, überwältigenden Gewalt, die den widerwärtigen Gestank von Haß und Bosheit und unbarmherziger Lust verströmte. Chiamh schrie auf und floh. Der erste Ansturm der Welle packte ihn – verschlang ihn. Irgendwie gelang es seinem Bewußtsein, sich zurück in seinen Körper zu tasten. Chiamh schluchzte vor Entsetzen und versteckte sich wie ein Kind in seinem Schattenmantel, bis das Böse vorübergezogen war.

Es dauerte sehr lange, bis das zu Tode erschrockene Windauge es wagte, wieder den Kopf zu heben, aber als es schließlich mit seinem silbernen Blick Ausschau hielt, war die Luft um es herum klar und sauber. Zu Chiamhs tiefer Erleichterung trug der Wind keine Todeskunde. Da begriff er, daß ihm eine Vision der Warnung gewährt worden war. Die Mächte – diese hellen und wunderschönen Lichter –, sie lebten noch. Aber was würde geschehen, wenn der Finstere die Hand ausstreckte, um sie zu ergreifen, so wie er es gerade vorhergesehen hatte? Er mußte ihnen helfen – das war der Grund, warum er heute abend das Gefühl gehabt hatte, hierherkommen zu müssen.

Chiamhs Erregung legte sich mit einem Mal und wich kalter Angst. »Wie kann ich ihnen helfen?« sagte er laut, so wie es die Art jener ist, die allein leben. »Du hast keine Ahnung, wer sie sind und was sie vorhaben. Aber du kannst es herausfinden – wenn du es wagst.« So sprach er sich selbst Mut zu.

Der Sturm zog und zerrte immer noch an dem Windauge wie ein gereiztes Kind. Seine Gewalttätigkeit würde es ihm schwermachen, seine Visionen unter Kontrolle zu halten; es bestand die Gefahr, mehr herauszufinden, als ihm lieb war. Solche Visionen waren gefährlich – aber er mußte das Risiko eingehen. Er war der einzige der Xandim, der den Grund kannte für diesen grimmigen Winter, der das Land gelähmt hatte, – aber kein einziger seines Volks glaubte ihm. Er wußte, daß es das Ende der Freiheit für seine Rasse und für andere bedeutete, wenn die Schneekönigin nicht aufgehalten wurde. Allein war er hilflos, aber wenn es ihm gelang, diesen hellen Mächten beizustehen …

Chiamh wandte sich denn Sturm zu und schlang sich einen Windstrang um die Finger. Als er dann seine Andersicht in diesen Knoten aus Luft goß, fing die Luft Feuer und loderte zu einem leuchtenden Knäuel aus mondgesponnenem Silber auf. Mit größter Vorsicht hielt er den Knoten fest, zog dann sanft seine Hände auseinander und begann das funkelnden Etwas zu dehnen und zu kneten, bis er endlich eine glitzernde Scheibe silberner Luft in Händen hielt. Seine Quecksilberaugen verengten sich, und das Windauge blickte in den Spiegel.