Unglücklich sah Khanu auf seinem Felsvorsprung und grübelte über diese Dinge nach, als er den schrillen, unmelodischen Schrei von Gristheenas Herausforderung hörte. Binnen weniger Augenblicke begann sich der Versammlungsplatz mit Weibchen zu füllen; aus der dreieckigen Tunnelöffnung in der südlichen Wand des Beckens kamen sie; mit dunkler, fließender Anmut sprangen sie über die spitzen Steine und schritten mit würdevoller Hast über den Berggrat, der in den Krater hineinragte. Wie eine sich brechende Wellenfront lief dieser gigantische Berggrat aus schwarzer, glänzender Lava an dem nördlichen Rand des natürlichen Kampfplatzes entlang und endete schließlich ziemlich abrupt beinahe im Zentrum des Beckens. Hier versammelten sich die Weibchen, die jetzt in jeder Nische und jeder Spalte in den Felsen hockten, angelockt von Gristheenas schrillem Schrei. Obwohl er nur weniges von dem verstehen konnte, was sie sagten, konnte Khanu das lauter werdende Hintergrundgemurmel ihrer Erregung deutlich hören. Ein Wort fiel jedoch wieder und wieder. »Shia!« flüsterten sie. »Shia ist zurückgekehrt!«
Khanu hatte sich gerade leise davonstehlen wollen, denn er fürchtete, die Weibchen könnten ihn in seinem Versteck entdecken. Als er jedoch ihr Murmeln hörte, änderte er plötzlich seine Meinung. »Sie haben kein Recht, mich auszuschließen«, murrte er rebellisch. »Diese Sache geht mich genauso an wie sie.« Also kauerte er sich statt dessen auf seinem schattigen Felsvorsprung nieder, um sich möglichst unsichtbar zu machen, und zitterte vor Aufregung. Das war ein Wettkampf, den er sich nicht entgehen lassen würde!
Man betrat den Versammlungsplatz durch einen dunklen, gewundenen Tunnel, der sich durch die Felsen am südlichen Ende des Kraters schlängelte. Shia trat mit würdevollen Schritten aus der Dunkelheit hervor. Sie hatte es nicht eilig, denn sie mußte mit ihrer ohnehin nur geringen Energie sparsam sein. Ihren Kopf hielt sie in einem merkwürdigen Winkel, um den Stab der Erde durch die schmale Öffnung zwischen den Felsen zu manövrieren. Hreeza, die leise Verwünschungen vor sich hin murmelte, folgte ihr.
Der letzte Rest des grauen Zwielichts funkelte in Shias Augen, als sie auf den Versammlungsplatz hinaustrat. Obwohl dem Publikum bei solchen Gelegenheiten absolutes Schweigen auferlegt war, hörte sie doch überall ein leises Murmeln. Erstaunen lag darin und, wenn sie sich nicht irrte, auch Freude. Die Weibchen waren unsichtbar in der Dunkelheit, bis auf einige verstreute, goldene Punkte – ihre Augen, die den letzten Rest des Tageslichts widerspiegelten. Ihre Freude verwandelte sich jedoch schnell in Protest und Bestürzung, als sie das schauerliche, pulsierende Glühen des Erdenstabs sahen, den Shia bei sich trug. Ich könnte gut auf das Ganze hier verzichten, dachte Shia müde. Dann legte sie ihre Last hastig Hreeza zu Füßen nieder. »Paß bitte für mich darauf auf«, sagte sie leise.
Hreeza musterte den Stab mit einem mißbilligenden Blick. »Ich werde ihn für dich bewachen, solange ich das gräßliche Ding nicht anfassen muß.«
Dann war Gristheena da. Die Erste stolzierte in die Mitte des Kraters, durchtrainiert und muskulös und so schwer und grobknochig wie ein Männchen. Shia erinnerte sich daran, daß die jüngere Katze selbst als kleines Kätzchen eine brutale Angeberin gewesen war – mit wenig Achtung für andere und sogar noch weniger Selbstbeherrschung. Hreezas Worten zufolge hatte sich darin nichts geändert.
Als die Herausforderin und Chueva wäre es an Shia gewesen, als erste zu sprechen. Statt dessen bewahrte sie stures Schweigen und wandte ihre Augen keine Sekunde lang von der hoch aufragenden Gestalt der Ersten ab; ohne zu schwanken, hielt sie Gristheenas wütendem Blick stand. Lange Minuten vergingen. Der Boden des felsigen Beckens versank in immer tiefere Dunkelheit. Die beiden großen Weibchen standen mit aufgestelltem Nackenhaar Auge in Auge einander gegenüber und funkelten sich an wie Raubvögel.
Wie Shia erwartet hatte, war Gristheena die erste, die schwach wurde. »Chueva!« Voller Verachtung stieß sie zuerst nur dieses eine Wort hervor. Dann fuhr sie fort: »Du gehörst nicht hierher; dies ist das Land und das Heim der Kolonie! Kämpfe nun, oder scher dich fort!«
Shia mußte innerlich lachen. Dadurch, daß sie das Schweigen gebrochen hatte, hatte Gristheena ihr Gesicht verloren – und alle hatten es mitangesehen. Shia ignorierte die hochmütige Katze, als wäre eine Beachtung dieser Ersten weit unter ihrer Würde. Statt dessen hob sie den Kopf und sprach ihre unsichtbaren Zuschauer an. »Ich bin nicht hierhergekommen, um zu kämpfen«, sagte sie, »und ich bin keine Chueva, denn ich wurde nie aus der Kolonie verstoßen. Alle von euch, bis auf vielleicht die Jüngsten, kennen mich. Ich bin Shia, das Erste Weibchen, zurückgekehrt von den Toten.«
»Spar dir deine Worte, Chueva, und kämpfe endlich!« Gristheena setzte zum Sprung an. Shia versuchte, ihr auszuweichen, aber ihr geschwächter Körper ließ sie im Stich. Die andere Katze prallte hart auf sie auf, und gemeinsam rollten sie über den Boden, attackierten sich fauchend mit den Klauen und bissen einander. Kleine Fellfetzen flogen durch die Luft wie schwarze Distelwolle, aber keine der beiden Katzen konnte über die andere die Oberhand gewinnen. Sie stoben auseinander und umkreisten sich, schlichen sich an, mit halb geschlossenen Augen, aufgestelltem Fell und hin- und herzuckendem Schwanz. Shias Flanke blutete dort, wo die andere Katze ihr die Klauen in den Leib geschlagen hatte, die Wunde brannte abscheulich. Gristheenas Nase hatte ebenfalls etwas abbekommen; sie nieste und stieß dabei einen feinen, blutigen Nebel aus. Einen Augenblick lang schloß sie die Augen – eine Chance, die Shia sofort nutzte. Links und rechts schlug sie ihr mit der Tatze ins Gesicht und riß ihr dabei fast ein Ohr ab. Fauchend und mit zu einer Dämonenmaske verzogenem Gesicht hob Gristheena drohend eine Pfote und heulte auf; ein schrilles Wehklagen, das aus den Tiefen ihrer Kehle emporstieg.
Shia holte tief Luft, denn sie rechnete damit, daß die schwerere Katze sich auf sie stürzen würde, aber Gristheena war jetzt vorsichtiger geworden. Lauernd umkreisten sie einander von neuem.
»Hör zu, du Närrin«, sagte Shia. »Das hier ist überhaupt nicht nötig. Hättest du mir nur einen Augenblick lang zugehört … Gristheena, ich habe gar nicht die Absicht, wieder Erste zu sein. Mein Weg führt an einen anderen Ort …«
»An einen anderen Ort, wahrhaftig«, zischte Gristheena. »Nämlich ins Nichts, Chueva, wenn es nach mir geht!«
Wieder setzte sie zum Sprung an. Shia hatte keine Zeit, ihr auszuweichen, und sie prallten heftig gegeneinander. Gristheenas größeres Gewicht warf Shia zu Boden. Shia, die sich kaum noch bewegen konnte, spürte heißen, feuchten Atem auf ihrem Hals, während die andere versuchte, die Reißzähne in ihre Kehle zu schlagen, aber Gristheena hatte eine Kleinigkeit übersehen. Keuchend bohrte Shia ihre hinteren Krallen in das weiche Bauchfleisch der jüngeren Katze, um sie von sich herunterzureißen, aber Gristheena war bereits verschwunden.
Shia rollte zur Seite und taumelte hinter ihr her. Gristheena fuhr herum – einen winzigen Augenblick zu spät. Shias Zähne schlugen sich bereits in ihren Schwanz. Gristheena drehte sich zischend und kreischend wie ein verwundeter Adler herum, aber da ihr Schwanz in Shias Maul klemmte, konnte sie den Körper ihrer Widersacherin nicht erreichen, genausowenig wie Shia den ihren erreichen konnte. Shia stemmte ihre Beine in den Boden und grub ihre Krallen in den zerbröckelnden Stein des Kraterbodens, aber wegen des größeren Gewichts und der Stärke ihrer Gegnerin wußte sie, daß sie jeden Augenblick den Halt verlieren würde. Bedauernd fügte sie sich dem Unvermeidlichen und ließ den Schwanz los.