Gristheena, die das Gleichgewicht verlor, überschlug sich mehrmals und rollte dabei direkt über den Stab der Erde hinweg, der dort auf dem Boden lag. Die große Katze schrie auf, als hätte sie sich verbrannt, und taumelte hastig zurück. Ihre Schnurrbarthaare zitterten, und ihre Augen blitzten. Der westliche Weg, der aus dem Krater herausführte – hinauf und über den Berggrat und dann wieder zurück durch die Schlucht –, war plötzlich unbewacht, denn während des Wettkampfs würden die anderen Katzen sich auf keinen Fall einmischen. Shia wartete einen günstigen Augenblick ab, packte den Stab und rannte los.
Die Verzweiflung gab ihren Füßen solchen Schwung, daß sie mit nur drei großen Sätzen oben auf dem Berggrat angekommen war, wobei sie die Katzen, die den Wettkampf beobachtet hatten, mit fliegenden Pfoten auseinanderscheuchte. Aber Shia hatte sich geirrt, als sie glaubte, der Stab habe ihre Gegnerin eingeschüchtert. Alle Luft wich mit einem Mal aus ihrem Körper, als Gristheena sich mit der Wucht einer Schneelawine von hinten auf sie stürzte. Shia fiel unter dem Aufprall der anderen Katze zu Boden, und der Stab entglitt ihr und rutschte scheppernd über die Steine. Gristheenas Klauen bohrten sich wie glühende Feuerscheite in ihre Flanken, wo sie blutige Risse hinterließen. Dann kratzte ihr eine große Pfote mitten durchs Gesicht und verpaßte ihre Augen nur um Haaresbreite. Heißes, klebriges Blut schoß Shia in Nase und Kehle. Dann spürte sie Gristheenas gewaltigen Kiefer mit seinen glänzenden, elfenbeinfarbenen Reißzähnen um ihre Kehle …
Khanu hatte den Kampf aufmerksam beobachtet. Er wußte nur wenig von der legendären Shia. Er war erst ein kleines Kätzchen gewesen, als sie verschleppt wurde, aber bei ihrem Anblick weiteten sich seine goldenen Augen voller Bewunderung. Die Katze war mager und sehnig, aber immer noch muskulös – und oh, wie wild sie aussah! Sie war älter als er selbst, aber immer noch in der Blüte ihrer Jahre, auf dem Höhepunkt ihrer Kampfkraft und ihrer sexuellen Ausstrahlung. Khanu, der sich gefährlich über seinen Felsvorsprung beugte, um den Kampf besser beobachten zu können, vergaß in seiner Aufregung, daß er kein Recht hatte, überhaupt dort zu sein, und wünschte sich von ganzem Herzen, daß Shia als Siegerin aus dem Kampf hervorgehen würde.
Unglücklicherweise war Shia in ihrem erschöpften und halb verhungerten Zustand keine Gegnerin für Gristheena. Als die schwerere Katze sie auf dem Berggrat zu Boden warf, setzte Khanus Herzschlag aus. Jetzt war alles vorbei. Und niemand war überraschter als er selbst, als er sich plötzlich in Bewegung setzte.
Aurian, es tut mir leid. Ich habe versagt. Shia wußte, daß ihr Tod jetzt sehr nah war. Klauen, die wie blauer Stahl schimmerten, stachen in die zarte Haut ihres Bauchs, um ihn gleich aufzureißen … Bis eine wuchtige Gestalt, ein schwarzer Schatten in der hereinbrechenden Dunkelheit, ein Wirbelwind aus Zähnen und Klauen von der Seite gegen Gristheena prallte, so daß sie taumelnd, blutend und halb besinnungslos auf den steinernen Boden des Kraters stürzte.
Der wilde Protest der übrigen Weibchen schwoll zu einem heulenden Crescendo an.
»Lauf!« Die Stimme brüllte in Shias Gedanken hinein. »Sie werden gleich hinter uns her sein!«
»Der Stab!« rief Shia und blickte verzweifelt um sich.
»Meinst du das da?« sagte eine andere Stimme. »Ich habe ihn, keine Angst. Und jetzt lauf!« Es war Hreeza. Shias Herz machte einen Freudensprung.
Ohne noch einen weiteren Augenblick zu verschwenden, entflohen die drei Katzen, Hreeza, Shia und das fremde Männchen, das ihr das Leben gerettet hatte. Sie sprangen über Schluchten, huschten waghalsig zwischen den Felsbrocken einher, die die verwüstete westliche Seite des Bergs übersäten; sie rannten, wie sie noch nie in ihrem Leben gerannt waren, und die Horde der Weibchen wogte wutschnaubend hinter ihnen her.
Hreeza taumelte noch einige letzte, qualvolle Schritte auf den Gipfel des Bergs hinauf und ließ ihre scharfen Augen dann über die zerklüfteten Hänge gleiten, die sie gerade eben unter so großen Schwierigkeiten erklommen hatten. »Ich glaube, wir haben sie endlich abgeschüttelt«, keuchte sie.
Khanu sagte nichts, sondern blieb einfach nur unter den vom Wind gebeugten Pinien stehen, die den Berg krönten, und gestattete seinen schmerzenden Gliedern mit einem dankbaren Seufzer, unter ihm zusammenzubrechen. Hoffnungsvoll blickte er zu Shia hinüber, deren Kiefer sich mit einem tödlichen Griff um dieses glühende Ding klammerten, das sie Hreeza am ersten Tag ihrer Flucht abgenommen hatte und seitdem im Maul trug. Khanu wußte, daß nichts als reine Willenskraft sie überhaupt so weit gebracht hatte.
Shia stieß einen tief empfundenen Seufzer der Erleichterung aus, als sie Hreezas Worte hörte. »Das hoffe ich wirklich«, murmelte sie. »Ich kann nämlich nicht mehr.« Sie sah aus wie der leibhaftige Tod, und der alten Hreeza ging es kaum besser. Khanu, der als Männchen nie in seinem Leben gejagt hatte, war solche Anstrengungen nicht gewöhnt und mußte sich eingestehen, daß auch er in einem beklagenswerten Zustand war.
Einen Tag und eine Nacht lang hatten die wutentbrannten Katzen der Kolonie die Flüchtlinge gnadenlos über die verwüsteten Hänge von Stahlklaue verfolgt und weiter durch die Schluchten und Pässe, die zwischen den Gipfeln im Westen verliefen, wo die drei Flüchtlinge ihr Bestes getan hatten, um sich unterhalb der Schneegrenze zu halten, damit sie keine Spuren hinterließen, denen ihre Jäger hätten folgen können. Mit dem Anbruch des Tageslichts hatten sie ihren Klettermarsch fortgesetzt und waren in Gebiete eingedrungen, von denen Khanu nicht das geringste wußte. Über ihnen ragte ein neuer Berg auf; eine beunruhigend fremdartige Gestalt, ganz anders als die des vertrauten Bergs, den Khanu sein ganzes Leben lang gekannt hatte. Außerdem hatten dicke, graue Schneewolken den Gipfel eingehüllt, Wolken, die jetzt wie gewaltige Felsbrocken auf ihn zuzurollen schienen.
Khanu hatte sich als Folge seiner Verbitterung gegenüber Gristheena, die ihn so gedemütigt hatte, in den Kampf der Königinnen eingemischt. Aber das war es nicht allein gewesen. Auch seine Ehrfurcht und sein Respekt für die legendäre Shia und ihre tapfere hoffnungslose Herausforderung hatten ihn dazu getrieben – und nicht zuletzt der verzweifelte Wunsch, sich selbst zu beweisen. Keinen Augenblick lang hatte er innegehalten, um darüber nachzudenken, daß sein impulsives Verhalten ihn seine Zukunft in der Kolonie kosten würde. Nun war auch er zum Chueva geworden. Der Gedanke daran ließ ihn erzittern.
»Ich werde nicht darüber nachdenken. Nicht ausgerechnet jetzt«, murmelte Khanu. Dann schüttelte er seine schwere, dunkle Mähne, als wolle er die erschreckenden Gedanken von sich abschütteln. »Bist du sicher, daß sie uns aus den Augen verloren haben?« fragte er Hreeza, die ihn mit einem furchterregenden Blick zum Schweigen brachte.
»Würde ich sonst Pause machen?« brauste sie auf. »Behalte deine törichten Kätzchenfragen für dich, Kindskopf!« Ihre Augen blitzten vor Zorn. »Warum bist du uns gefolgt?«
Khanu hatte Verstand genug, zu begreifen, daß Hunger und Müdigkeit Hreeza reizbar gemacht hatten, aber er selbst war ebenfalls erschöpft, und die Arroganz der alten Katze ärgerte ihn. Er hob den Kopf und erwiderte ihren Blick. »Ich bin mit euch gekommen, weil das mein Wunsch war. Ich bin wegen Shia mitgekommen, weil ich ihr helfen will.«
»Du willst ihr helfen?« höhnte Hreeza. »Du? Ein Männchen? Welchen Nutzen könntest du denn für uns haben? Shia verspürt nicht den geringsten Wunsch, sich zu paaren; sie hat weiß Gott wichtigere Dinge im Kopf. Warum sollten wir uns mit dir belasten? Du kannst ja nicht mal jagen!«
Khanu biß die Zähne zusammen und unterdrückte ein Fauchen. »Ich kann es lernen«, zischte er.
»Ha!« Hreeza machte keinen Hehl aus ihrer Verachtung.
»Seid still, alle beide!« Mit großer Mühe gelang es Shia, ihr geschwollenes Maul von dem Stab zu lösen. Nachdem sie das Artefakt zu Boden gelegt hatte, blickte sie von Khanu zu Hreeza. »Es hat gar keinen Sinn, daß ihr euch streitet«, sagte sie mit dem entschlossensten Gedankenton, den sie zuwege bringen konnte. »Denn keiner von euch beiden wird mit mir kommen.«