»Das glaube ich nicht«, murmelte Yanis. »Nachdem der Erzmagusch die Herrschaft an sich gerissen hat, habe ich auch meine letzten Leute von Nexis abgezogen. Es war mir einfach zu gefährlich, gute Männer dabei zu riskieren. Und vergiß nicht«, fügte er hinzu, »ich habe in letzter Zeit viel über die Dinge nachgedacht. Dieser Wintersommer und die Stürme auf See haben dem Handel fast ein Ende gesetzt, und unsere Vorräte gehen langsam zur Neige. Wir werden bald etwas unternehmen müssen.«
»So schlimm sieht es also aus, hm?« fragte Fional mitleidig. »Weißt du, wenn ihr in Schwierigkeiten kommt, könnt ihr immer noch jemanden ins Tal schicken, zu Dulsina. Wir haben mehr als genug.«
Remana schüttelte den Kopf. »Ich verstehe das nicht. Du hast erzählt, daß der Winter sich nicht auf das Tal zu erstrecken scheint. Aber wie ist das möglich?«
»Dulsina glaubt, daß wir irgendwie beschützt werden – wahrscheinlich von der Lady Eilin«, erwiderte Fional mit einem Schulterzucken. »Aber wir verstehen einfach nicht, warum sie sich uns nicht zeigt. Vannor sagt, Aurian hätte immer davon gesprochen, daß ihre Mutter eine ausgesprochene Einzelgängerin sei, aber das Ganze kommt mir doch ziemlich merkwürdig vor.«
»Nun, was auch immer der Grund dafür sein mag, ich bin jedenfalls dankbar dafür«, sagte Remana, »aber das bringt uns der Frage nicht näher, wie wir Vannor und Zanna helfen können.« Ein Stirnrunzeln überzog ihr breitknochiges Gesicht. »Ich fühle mich so schuldig. Wenn ich das verflixte Mädchen doch nur besser im Auge behalten hätte …«
Yanis legte ihr tröstend eine Hand auf den Arm. »Mach dir keine Vorwürfe, Mama. Es war meine Schuld, daß Zanna verschwunden ist, und wir alle wissen das. Wenn ich doch nur ihrem Plan zugestimmt hätte, unsere Schiffe Vannor zur Hilfe zu schicken, statt auf Gevan und Idris hier zu hören …« Er warf dem alten Kapitän einen finsteren Blick zu. »Das mindeste, was wir jetzt tun könnten, ist, dabei zu helfen, sie zu finden – und das ist keine Frage, die hier zur Diskussion steht.« Er hielt inne und sah alle Anwesenden der Reihe nach an. »Die Frage ist: Wie sollen wir das schaffen ohne unsere Männer in Nexis?«
Idris machte immer noch ein unglückliches Gesicht. »Na schön. Wenn es sein muß, dann muß es sein, schon allein, um nicht Vannors Freundschaft zu verlieren, die uns so oft weitergeholfen hat. Aber gibt es denn keine Möglichkeit, zu verhindern, daß wir dabei unsere eigenen Leute aufs Spiel setzen?«
Yanis schüttelte den Kopf. »Ich wüßte nicht, wie …«
»Aber ich weiß es!« Remana, die die ganze Zeit über tief in Gedanken versunken gewesen war, unterbrach ihn plötzlich. »Wir brauchen einen Kontaktmann, der schon in Nexis sitzt, und ich weiß genau, an wen wir uns da wenden könnten – an Jarvas, einen alten Freund deines Vaters, der eine Herberge für die Armen der Stadt betreibt.« Sie sah einen nach dem anderen an, und ihre Augen funkelten vor Aufregung. »Sein Haus liegt direkt unten am Fluß, daher können wir nach Einbruch der Dunkelheit leicht dort hineinschleichen und …«
»Also einen Augenblick mal!« rief Yanis. »Was meinst du mit wir? Wenn du glaubst, ich nehme dich mit nach Nexis und setze dich all diesen Gefahren aus, dann hast du dich aber geirrt.«
Remana lächelte süß. »Aber Yanis! Jarvas kennt dich nicht. Er würde einem Fremden niemals vertrauen, schon gar nicht in einer Situation wie der jetzigen.« Ihre Augen zwinkerten schelmisch. »Mich dagegen kennt er.«
Fional, der auf der anderen Seite des Tisches saß, grinste vor sich hin. »Wußtest du eigentlich, Remana, daß du genauso bist wie deine Schwester?«
Yanis verbarg sein Gesicht in seinen Händen und stöhnte.
Der Marsch durch die im Schneematsch erstickenden Gassen ging mir größter Eile und Heimlichkeit vor sich. Obwohl Jarvas den stämmigen und schweren Fremden ganz allein trug – Tilda hatte kaum mehr getan, als sein Schwert und das Bündel zu tragen –, hatte die Hure doch größte Schwierigkeiten, mit dem schnellen Schritt des hochgewachsenen Mannes mitzukommen. Bei den Göttern, wie froh sie sein würde, wenn sie erst in Sicherheit waren! Der Schock über ihre Narrheit in der Taverne hatte sich gelegt, und langsam dämmerten ihr die Konsequenzen ihres Verhaltens. »Was habe ich nur getan?« stöhnte sie. »Und warum habe ich es getan?« Einige der Wachen waren nur verwundet gewesen, aber andere waren gewiß tot, und sobald Pendral ihre Beschreibung und die von Jarvas im Umlauf gebracht hatte, konnten sie kaum hoffen, einer Verhaftung noch lange zu entgehen.
Tilda fluchte leise vor sich hin. Das Leben als Straßendirne war wahrhaftig nichts Besonderes, aber immer noch besser als ein Leben auf der Flucht. In der letzten Stunde war ihre ganze Welt in Scherben gegangen. Grimmige und bittere Linien hatten sich in ihr Gesicht gegraben, und sie trottete hinter Jarvas her durch das Labyrinth der Gassen, die zu seinem Heim führten.
Die stabile Palisade ragte über Tildas Kopf auf, und trotz ihres wachsenden Unbehagens war sie beeindruckt. Sie war noch nie zuvor hier gewesen – sie konnte sich um sich selbst kümmern, vielen Dank, und sie war stolz darauf –, aber natürlich hatte sie von diesem Ort gehört. Jarvas und seine guten Taten! dachte sie. Und was haben sie ihm eingebracht? Als sie das schwere Tor erreichten, pfiff der große Mann eine komplizierte Melodie, und kurz darauf hörte man ein hohles, scharrendes Geräusch, als schwere Holzgitter auf der anderen Seite der Tür aus ihren Sockeln gehoben wurden. Das Tor schwang auf, und das leuchtende Fackellicht, das Tilda entgegenschlug, trieb ihr Tränen in die Augen. Dann löste sich eine in Umhang und Kapuze verborgene Gestalt aus dem Nebel.
»Du bist aber früh zurück.« Beim Anblick von Jarvas’ Last geriet die Stimme der Frau ins Schwanken. »Bei den Göttern, was ist passiert?« Tilda sah, wie die kleine Gestalt sich straffte und offensichtlich einen Entschluß faßte. »Ich werde sofort Benziorn holen«, sagte sie energisch und drehte sich auch schon um.
»Gutes Mädchen!« schrie Jarvas hinter ihr her. »Sag ihm, daß wir hier eine Wunde haben, die genäht werden muß.«
»Mach ich.« Die Frau verschwand im wabernden Nebel.
Jarvas trug den verwundeten Fremden in das Lagerhaus, das am nächsten lag. Tilda, die ihm folgte, keuchte vor Überraschung, als sie durch die schmale Öffnung in der massiven Tür schlüpfte. Der Nebel machte es einem schwer, von außen die Größe des Gebäudes zu beurteilen, aber im Innern angelangt, stellte man fest, daß es riesig war: Das Erdgeschoß war ein von lauten, fröhlichen Rufen widerhallendes Gewölbe, und Schatten tanzten auf den Wänden, die von dem Licht der Fackeln herrührten. Diese Fackeln waren an den acht tragenden Steinsäulen befestigt, die sich in Zweierreihen durch die ganze Halle erstreckten. Tildas erster Eindruck war von Wärme und Licht geprägt. Lampen und Kerzen brannten auf Steinvorsprüngen und in Nischen, die man in die rohen Wänden des gekalkten Steins gehauen hatte. Außerdem brannten in regelmäßigen Abständen und auf beiden Seiten des riesigen Raumes Lagerfeuer. Der Qualm des Holzes stieg in unruhigen Wogen auf, füllte den Raum mit einem erstickenden Nebel, der in Tildas Augen brannte und ihr den Atem raubte, so daß sie wieder anfing zu husten. Sie hatte einen flüchtigen Eindruck von Leuten, die sich um sie scharten, und hörte ein Summen vieler fragender Stimmen, aber ihre Augen tränten so sehr, daß es ihr unmöglich war, durch den qualmigen Dunst hindurch etwas deutlich zu erkennen.
»Aus dem Weg! Ich habe hier einen Verletzten!« brüllte Jarvas. »Mögen uns die Götter gnädig sein! Welcher Schwachkopf hat bloß die Fenster geschlossen! He, du da!« Er fing den Blick eines mageren Bengels mit schmutzigem Gesicht auf. »Junge, kannst du klettern?«
»Natürlich kann ich das!« Der schmuddelige, kleine Junge nickte begeistert.
»Gut. Da drüben an der Wand findest du eine Leiter. Klettere zu einem der hohen Fenster hinauf und öffne die Läden, und wenn du das getan hast, tu dasselbe mit dem Fenster gegenüber. Ein kräftiger Durchzug wird diesen Rauch in kürzester Zeit vertreiben.«