Die dunklen Stumpen feuchter, halb verfallener Gebäude mit zugenagelten Fenstern ragten zu beiden Seiten neben ihr auf und verschluckten den größten Teil des bleiernen Morgenlichts, so daß sie die schmalen Gassen in bedrohliche, düstere Tunnel verwandelten. Links und rechts von ihr waren Eingänge, einige davon mit zersplitterten, vermodernden Türen versehen, die schief und wie betrunken an einer einzigen rostigen Angel hingen; andere waren lediglich dunkle, klaffende Löcher, hinter denen sich alle möglichen Gefahren verbergen konnten.
Vor allem an diesen eilte Emmie schnell vorbei. Ihre Nerven waren angespannt, und sie verfluchte Jarvas, weil er sie mit einer solchen Aufgabe betraut hatte. Das war die sicherste Zeit, um diese von Armut geschlagenen Schlupfwinkel aufzusuchen, denn der Großteil ihrer Bewohner würde jetzt nach den verzweifelten Taten der vergangenen Nacht noch schlafen. Trotzdem fühlte Emmie sich unwohl. Obwohl die Gassen vollkommen verlassen schienen, wähnte sie in jedem dieser offenen Eingänge feindliche Augen. Wachsam sah sie sich um und überprüfte noch einmal das Messer in ihrem Gürtel. Dann zog sie sich ihre Kapuze noch fester über das Gewirr ihrer blaßgoldenen Locken und ging weiter, wobei sie Tildas Beschreibungen wieder und wieder vor sich hin murmelte. Die Götter stehen uns bei! dachte sie. Was für ein entsetzlicher Ort, um ein Kind aufzuziehen!
Plötzlich hörte Emmie ein Knurren, das ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ. Eine der schief hängenden Türen vor ihr flog auf und gab eine gewaltige, zottelige, weiße Gestalt frei, deren Lippen zurückgezogen waren und eine Reihe wilder, vergilbter Reißzähne entblößten. Das Tier sabberte, und in seinen Augen stand ein drohendes Feuer. Ohne auch nur einen Augenblick lang diese funkelnden, roten Augen von ihr abzuwenden, glitt der Hund hinaus auf die Straße, offensichtlich voller Angst, aber auch fest entschlossen, ihr den Weg nach vorn zu versperren, wobei er ein lautes, kehliges Bellen ausstieß.
Emmie blieb wie angewurzelt stehen, ihr Herz hämmerte,, und ihre Finger schlossen sich noch fester um ihren Stock. Die Zeit schien sich unendlich auszudehnen, während sie die Schwellungen am Leib des Hundes bemerkte, die Knochen, die durch das schmutzige, glatte, weiße Fell des Tieres hervorstachen, und die Reihe geschwollener Zitzen, die von seinem ausgemergelten Leib herabhingen. Trotz der Gefahr spürte sie, wie ihr Herz sich vor Mitleid zusammenzog angesichts dieser armen, abgemagerten Mutter, die einen Wurf hungriger, junger Hunde zu futtern hatte.
Emmie verstand den Instinkt einer Mutter. Sie hatte selbst einmal ein kleines Mädchen gehabt, und ein anderes Kind war unterwegs gewesen, als ihr Mann Devral, ein junger Geschichtenerzähler, von den Soldaten des Erzmagusch aufgegriffen worden war und für alle Zeit aus ihrem Leben verschwand. Das Entsetzen und die Trauer über seinen Verlust hatten dazu geführt, daß sie auch noch ihr Baby verlor, und in der Not der folgenden Wochen war ihre kleine Tochter an einem Fieber gestorben. Plötzlich überflutete sie eine Woge der Verbundenheit mit der erbärmlichen Kreatur, die da vor ihr stand.
Trotz ihrer Größe war die Hündin offensichtlich noch sehr jung – zu jung, um Mutter zu sein, dachte Emmie und ließ ihren Blick über die schlaksige Gestalt und die gewaltigen Pfoten gleiten, die noch auf weiteres Wachstum hinzudeuten schienen. Dies war offensichtlich ihr erster Wurf. Trotz ihres knochigen, schmutzigen Aussehens waren ihre Augen klar und ihr glattes Fell dicht. Außerdem wies sie keine Anzeichen von Räude oder Tollwut auf. Der Beutel an Emmies Gürtel enthielt Nahrung – Brot, Käse und Fleisch –, ursprünglich bestimmt für Tildas Sohn. Zweifellos hatte das Tier ihre Vorräte gewittert, und die Verzweiflung hatte es zum Angriff getrieben.
»Du armes Ding«, murmelte Emmie. Nun, sie war sicher, daß Tildas Gör mit dem Essen warten konnte, bis sie ihn wieder in der Herberge hatte. Vorsichtig kroch ihre freie Hand zu dem Beutel an ihrem Gürtel, aber die Bewegung war unüberlegt gewesen. Ein lauter werdendes Fauchen stieg aus der Kehle der Tieres auf, und es sprang auf sie zu. Als Emmies Stock mit einem unangenehmen Krachen auf den Rippen des Tieres landete, zog sich die Hündin mit einem gequälten Jaulen zurück. Winselnd und besiegt schlich sie wieder in den Eingang, aus dem sie gekommen war, wobei sie immer wieder zurückblickte, als versuche sie, den Mut zu finden, noch einmal anzugreifen.
»Ach, Mist!« murmelte Emmie. Sie zitterte, und ein ganz unvernünftiges Schuldgefühl quälte sie. Schnell durchstöberte sie ihren Beutel und zog das Päckchen mit dem Essen heraus. »Hier, mein Mädchen!« rief sie und warf ihren Vorrat dem hungrigen Tier hin. Die Hündin stürzte sich sabbernd auf das Päckchen und blickte plötzlich mit strahlenden Augen zu ihrem Gönner auf. Der zottelige, weißgescheckte Schwanz wackelte kurz, als wolle das Tier sich bedanken. Dann packte es das Essen mit der Schnauze und war verschwunden. Aus dem Gebäude drang lautstarkes, schrilles Winseln, das die Rückkehr der Mutter zu ihren Jungen verriet.
Emmie, die sich innerlich über ihre Weichherzigkeit lustig machte, setzte ihren Weg fort und hielt nur noch einmal kurz inne, um sich über die Augen zu wischen, die sich unerklärlicherweise mit Tränen gefüllt hatten. »Du Idiotin«, schalt sie sich. »Hast du nicht genug menschliches Leiden gesehen, daß du einen hungrigen Hund mit Eintopf fütterst?« Sie konnte sich genau vorstellen, was Jarvas sagen würde, falls er je herausfand, daß sie etwas von ihren mageren und kostbaren Vorräten an einen verdammten Köter verfüttert hatte. Dennoch erwärmte sich ihr Herz angesichts der offensichtlichen Dankbarkeit des Hundes; und Emmie wußte, daß sie sich wieder genauso verhalten würde, wenn sie noch einmal zu entscheiden hätte.
»Grince? Grince, bist du da drin? Deine Mutter hat mich geschickt, damit ich dich hole.« Emmie schlug kräftig auf die nicht besonders stabil wirkende Tür und krümmte sich innerlich, als sie den unvorteilhaften Namen des armen Kindes rief. (»Ich habe ihn nach seinem Vater genannt«, hatte Tilda zu ihrer Verteidigung gesagt. »Zumindest bin ich beinahe sicher, daß das sein Vater war.«) Emmie schüttelte resigniert den Kopf und klopfte noch einmal. Sie hatte schon eine ganze Weile auf das unnachgiebige Holz gehämmert, als sie ein knirschendes Geräusch auf der anderen Seite hörte, als hätte jemand einen schweren Gegenstand von der Tür weggezerrt. Dann öffnete sich die Tür einen Spaltbreit, und ein dunkles, argwöhnisches Auge spähte hindurch. »Meine Ma hat gesagt, ich soll niemandem die verdammte Tür aufmachen!«
Die junge Frau hatte gerade noch Zeit, ihren Stock in den Spalt zu stecken, bevor die Tür wieder zugeschlagen wurde. Von dem Zehnjährigen auf der anderen Seite kam ein solcher Schwall von Flüchen, daß Emmie zusammenzuckte, obwohl sie glaubte, gegen die Gossensprache immun geworden zu sein. Trotz seiner gespielten Tapferkeit konnte sie spüren, daß das Kind große Angst hatte – und nicht ohne Grund; immerhin war seine Mutter die ganze Nacht über nicht nach Hause gekommen.
»Sei nicht dumm«, sagte sie energisch. »Tilda hatte gestern abend etwas Ärger, und das ist der Grund, warum sie nicht nach Hause gekommen ist. Aber keine Angst, sie ist jetzt sicher bei Freunden. Mein Name ist Emmie. Sie hat mich geschickt, um dich zu holen, damit du auch in Sicherheit bist.« Mit diesen Worten erzwang sie sich den Weg in das Zimmer.