»Geh weg!« heulte das Kind. »Ich komme nicht mit dir. Wo ist meine Mama?« Es hockte in der hintersten Ecke eines einzigen Raumes, in einem Nest verlauster Lumpen, die offensichtlich sein Bett darstellten; seine dunklen Augen blickten hinter einem zotteligen, schwarzen Pony zu ihr auf.
»Na, komm schon, Grince«, versucht Emmie ihn zu überreden. »Sieh mal, wir dürfen keine Zeit verschwenden. Deine Mutter macht sich Sorgen um dich.« Voller Mitleid blickte sie auf den kleinen, mageren Jungen herab und verfluchte Tilda innerlich. Wahrhaftig, das Kind sah vollkommen vernachlässigt aus und genauso unterernährt wie dieser arme, streunende Hund vorhin.
»Na, komm schon.« Sie trat vor sein Bett, kniet sich hin und erstarrte vor Entsetzen, als sich das grausame Glitzern eines Messers in der Hand des kleines Jungen sah.
»Verzieh dich!« schrie er mit schriller Stimme. »Komm bloß nicht näher, sonst schlitz ich dich auf!«
Er meinte es ernst, soviel stand fest. Emmie schauderte. Was mußte das für ein Leben sein, das einem Kind so etwas antun konnte? Ihre Gedanken überschlugen sich. Wenn sie ihn doch nur dazu bringen konnte, ihr zu vertrauen. Einen flüchtigen Augenblick lang bedauerte sie es, daß sie den Eintopf dem hungernden Hund gegeben hatte. Der Hund! Emmie schenkte dem Jungen ihr strahlendstes Lächeln. »Ach, vergessen wir die alte Tilda. Die kann warten. Möchtest du vielleicht lieber ein paar Hündchen sehen?« fragte sie entwaffnend.
Grinces Gesicht erstrahlte wie ein Leuchtfeuer. »Hündchen? Wirklich? Gehören sie dir? Kann ich eins haben?« Dann kehrte das Stirnrunzeln wieder zurück. »Aber meine Mama wird das nicht erlauben«, fügte er schmollend hinzu.
Emmie grinste und ging auf die Sprache des Jungen ein. »Deine Mama kann uns mal«, sagte sie fröhlich. »Wenn du das Messer da weglegst und mit mir kommst, kannst du die ganze verdammte Meute haben!«
Zuerst hatte Emmie Angst, daß die Hündin feindselig sein könnte. Als sie sich mit dem aufgeregten Kind im Schlepptau dem Gebäude näherte, befahl sie Grince, draußen zu warten, und schlich sich ängstlich hinein. Sie hätte sich keine Sorgen zu machen brauchen. Die weiße Hündin freute sich, sie zu sehen; wahrscheinlich, so dachte Emmie, hoffte sie, daß sie ihr noch mehr zu essen bringen würde.
»Guter Hund«, sagte sie sanft und streckte die Hand aus, um ihn hinter seinen weichen, weißen Ohren zu kraulen. Zur Belohnung erhielt sie ein Winseln und heftiges Schwanzwackeln, während das Tier sich fest an sie drückte und ihre Hand leckte. Ein gutmütiges Tier, dachte die junge Frau, während sie sich darüber freute, daß ihre Einschätzung der jungen Hundemutter zutraf. Früher einmal hatte dieses Tier einen freundlichen Besitzer gehabt, aber was war aus ihm geworden? Eine schnelle Durchsuchung des Zimmers gab ihr die Antwort. Der Besitzer war in der Hütte gestorben – höchst wahrscheinlich an Alter oder an einer Krankheit –, und der Hund hatte sich seither von der Leiche ernährt.
»Nun?« fragte Emmie sich. »Was hätte sie auch tun sollen? Schließlich mußte sie ihre Jungen füttern.« Dennoch mußte sie heftig gegen einen Brechreiz ankämpfen, während sie eine alte Decke nahm und den Haufen säuberlich abgenagter Knochen verhüllte, bevor sie das Kind in das Zimmer rief.
Grince brach angesichts der jungen Hündchen in Entzückensschreie aus – eine kunterbunte Schar: ein Tier weiß wie seine Mutter und die andern mit schwarzen Flecken gesprenkelt. Als Emmie die Hand ausstreckte, um die kleinen Geschöpfe zu nehmen, reagierte die Hündin, die vom Hunger sichtbar geschwächt war, mit einem Vertrauen, das ihr ans Herz griff. Als sie gemeinsam die Hütte verließen, tanzte Grince, der seine Aufregung nicht verbergen konnte, fröhlich um sie herum. »Gehören sie mir?« fragte er sie mit weit aufgerissenen Augen. »Kann ich alle behalten?«
»Natürlich kannst du das«, antwortete Emmie leichtsinnig. Dann legte sie ihr freie Hand auf den breiten, weichen Kopf der Hündin, die neben ihr herlief, und lächelte. »Aber der große Hund gehört mir«, fügte sie mit fester Stimme hinzu. Plötzlich war sie fröhlicher und zufriedener, als sie es nach Devrals Tod je gewesen war.
Es war schon fast Mittag, als sie müde in die Herberge zurückkehrten. Die fünf zappligen Hundebabys, die noch nicht einmal die Augen öffnen konnten, hatte sie vorsichtig in einen großen Beutel verfrachtet, den sie aus ihren Unterröcken gemacht hatte. Grince, den ihr Einfallsreichtum gewaltig beeindruckt hatte – das und die Tatsache, daß sie ihr Versprechen gehalten hatte –, klammerte sich fest an ihre freie Hand, und der große, weiße Hund folgte ihr vertrauensvoll auf dem Fuß. Die Götter mögen mir beistehen, dachte Emmie und stellte sich vor, wie die Hure wohl reagieren würde, wenn man ihr nicht nur einen, sondern gleich fünf junge Hunde präsentierte – Tilda steht ein Schock bevor. Und was, um alles in der Welt, wird Jarvas sagen, wenn er diese Menagerie sieht?
»Was, zum Kuckuck, ist das?« Der entsetzte Ausdruck auf Jarvas’ Gesicht beim Anblick des weißen Hundes war nicht besonders ermutigend. Grince versteckte sich ängstlich hinter Emmies Röcken. Sie drückte seine Hand und hob trotzig das Kinn, aber der Junge konnte spüren, daß sie zitterte. »Es ist nur ein Hund, um Himmels willen!« protestierte sie.
»Ein Hund? Für mich sieht er mehr wie ein verdammtes Pferd aus!« schnaubte Jarvas. »Emmie, du hättest mehr Verstand haben sollen, als dieses Geschöpf hierherzubringen. Haben wir nicht schon genug Sorgen nach meiner Wahnsinnstat von gestern abend? Steht uns nicht schon genug Ärger bevor? Und wie, im Namen aller Götter, willst du das verflixte Tier füttern? Wir haben schon für die Menschen kaum genug.«
Und meine Hündchen! dachte Grince. Er hatte plötzlich einen Kloß in der Kehle und mußte schlucken. Noch nie in seinem kurzen Leben hatte er etwas gehabt, das wirklich ihm gehörte – und noch nie zuvor hatte er sich etwas mehr gewünscht als diese fünf winzigen Lebewesen. Über seinen Kopf hinweg ging der Streit weiter.
»Ich werde sie von meiner Ration füttern«, erwiderte Emmie entschlossen.
»Und genau das wirst du eben nicht!« fuhr Jarvas sie an. »Du ißt sowieso nicht annähernd genug, auch ohne zusätzlich noch einen räudigen Hund von deiner Ration verpflegen zu müssen. Ich sage dir, Emmie, ich werde es nicht erlauben.«
Grince sah, daß seine neue Freundin in die vertrauensvollen Augen des Hundes blickte. Dann holte sie zitternd Luft. »Na schön«, sagte sie mit gepreßter Stimme. »Wenn wir hier nicht willkommen sind, gehen wir woanders hin.«
»Nein!« Das Protestgeheul kam von Grince. »Du kannst nicht weggehen. Was wird dann aus meinen Hündchen?« Bevor Emmie noch etwas tun konnte, schoß er hinter ihr hervor, trat Jarvas kräftig gegen das Schienbein und ging dann wieder hinter ihr in Deckung. »Laß sie in Ruhe, du widerliches, altes Schwein!« schrie er. »Es ist ihr Hund, und die Hündchen gehören mir, und wir werden sie behalten. So!«
Ein langer Arm schoß nach vorn, und der große Mann zog Grince hinter Emmies Röcken hervor. So sehr der Junge sich auch wand und krümmte, er konnte dem qualvoll festen Griff dieser starken Finger nicht entkommen. Jarvas Augen funkelten vor Zorn.
»Es ist alles gut, mein Sohn.« Die weiche, tiefe Stimme war fest und beruhigend. »Jarvas, ist das wirklich nötig?«
Jarvas ließ den Jungen los und wandte sich dem Mann mit dem silbergoldenen Haar zu, der plötzlich hinter ihm aufgetaucht war. Auf dem dick verschneiten Boden hatte man ihn überhaupt nicht kommen hören.
»Du hast kein Recht, Benziorn …«, begann der große Mann wütend, aber der andere faßte ihn am Arm und zog ihn ein Stück fort, so daß man nicht mehr hören konnte, was er zu ihm sagte. Grince blickte zu Emmie auf. Zu seinem Erstaunen huschte ein Lächeln über ihre Lippen.
»Benziorn ist ein guter Arzt«, sagte sie zu dem Jungen, »und wir brauchen ihn hier. Wenn irgend jemand Jarvas dazu bringen kann, seine Meinung zu ändern, dann er.«
Grince sah zu, wie die beiden Männer miteinander sprachen, und biß sich ängstlich auf die Lippen. So froh er über Benziorns Einmischung gewesen war, konnte er jetzt nur noch hoffen, daß es dem Arzt gelingen würde, Jarvas zugunsten seiner Hündchen umzustimmen. Es sah so aus, als dächte Emmie dasselbe. Sie kniete auf dem Boden nieder und legte ihre Arme um den mit dichten Pelz bewachsenen Hals des weißen Hundes. »Es ist alles gut«, hörte der Junge sie dem Tier zuflüstern. »Bei mir wirst du ein Zuhause finden, ganz gleich, was Jarvas sagt.«