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Nach einer Zeit, die Grince wie eine Ewigkeit erschien, stampfte Jarvas mürrisch vor sich hin grummelnd davon, während Benziorn kopfschüttelnd zu der wartenden kleinen Gruppe zurückkehrte. »Wenigstens habe ich immer noch ein wenig Überzeugungskraft. Wirklich, wenn du nicht so eine gute Assistentin wärst …« sagte der Arzt in gespielt tadelndem Tonfall zu Emmie.

»Benziorn, wie kann ich dir nur danken?« erwiderte Emmie überglücklich. »Ich hatte ja damit gerechnet, daß Jarvas nicht begeistert sein würde, aber …«

»Mach ihm nicht zu große Vorwürfe, Emmie.« Der Arzt seufzte. »Jarvas hat heute zu viele andere Sorgen, um sich um einen streunenden Hund zu kümmern. Er …«

»Es ist nicht einfach nur irgendein streunender Hund«, piepste Grince empört dazwischen. »Was ist mit meinen verdammten Hündchen?«

»Grince!« schimpfte Emmie. »Wir werden wohl etwas wegen deiner Sprache unternehmen müssen!«

»Welche Sprache?« erkundigte sich der Junge unschuldig.

Benziorn hockte sich neben ihn und runzelte die Stirn. »Ich glaube, du weißt genau, welche verdammte Sprache gemeint ist, du kleiner Racker. Also, Jarvas erlaubt es nicht, daß man hier flucht – und schon gar nicht vor Damen wie Emmie. Daher solltest du dich besser bei ihr entschuldigen, sonst könnte sie vielleicht auf die Idee kommen, dir diese Hündchen wieder wegzunehmen.« Er sah Grince so wild an, daß dieser ängstlich schluckte.

»Ich … Es tut mir leid, Emmie«, sagte er kleinlaut.

»So ist es schon besser.« Benziorn lächelte und zerzauste ihm das Haar. »Jetzt wollen wir aber zusehen, daß wir deine kleinen Hunde irgendwo gut unterbringen. Solange wir noch Zeit dazu haben.« Die letzten Worte sagte er mit so leiser, besorgter Stimme, daß der aufgeregte Junge sie kaum hörte.

Nachdem Jarvas es Emmie überlassen hatte – schließlich war es ganz allein ihre Schuld –, mit Tildas hysterischem Anfall angesichts von fünf jungen Hunden fertigzuwerden, durchquerte er das Lagerhaus und blickte düster auf den verletzten Soldaten hinab, der ihm so viel Ärger bereitet hatte. Er zuckte zusammen, als eine Stimme hinter ihm sagte: »Die Kopfverletzung unseres mysteriösen Fremden ist vielleicht doch ernster, als ich gedacht habe. Er hätte mittlerweile längst das Bewußtsein wiedererlangen müssen.«

»Mußt du dich heute andauernd von hinten an mich heranschleichen?« fuhr Jarvas auf, aber seine Gereiztheit schwand dahin, als er in das hagere, besorgte Gesicht des Arztes blickte. Zum ersten Mal, seit sie einander begegnet waren, war Benziorn nüchtern. »Ist es wirklich so ernst?« fragte Jarvas, dem plötzlich sehr kalt war. »Bei allen Göttern, wenn ich hier alle in Gefahr gebracht habe, um ihn zu retten, und er uns dann einfach wegstirbt …«

Der Arzt kniete neben seinem Patienten nieder. »Sein Puls scheint ein wenig stärker zu sein«, sagte er hoffnungsvoll. »Vielleicht liegt es nur an seinem Alter und an dem Blutverlust – ganz davon zu schweigen, daß man ihn in dieser grausamen Kälte und mit dieser schweren Verletzung auch noch durch die Straßen geschleift hat!« Nachdem er sich mühsam wieder aufgerappelt hatte, legte er Jarvas eine Hand auf den Arm. »Kann ich irgendwie helfen?« fragte er leise.

»Helfen? Wie?« Die Stimme des großen Mannes war rauh vor Verbitterung. »Ich habe diese Sache wirklich gründlich verpfuscht, Benziorn. Sieh dir diese Leute doch nur mal an! Was wird aus ihnen werden, wenn die Soldaten kommen? Bisher haben wir kaum Aufmerksamkeit erregt – was haben wir schon, daß irgend jemand sich für uns interessieren sollte? Aber jetzt?« Er streckte den Arm aus, als wolle er seine zerzauste, kleine Schar bettelarmer Nexianer umfassen. »Es ist nur eine Frage der Zeit, daß Pendrals Soldaten herausfinden, wer ich bin. Ein Gesicht wie meins ist ziemlich leicht wiederzuerkennen.«

»Und von da ist es nur ein kleiner Schritt, und sie behandeln diese Herberge, als wäre sie bis obenhin voll von Spionen und Verrätern. Und was das bedeutet, wissen wir ja.« Benziorn sah Jarvas offen an. »Mein Freund, ich glaube, wir sollten uns darauf vorbereiten, von hier zu verschwinden.«

Der große Mann zuckte bei Benziorns Worten zusammen. »Aber …« Sein Protest verstummte jedoch, als der Arzt die Augenbrauen hob, und er seufzte. »Du hast recht. Ich weiß, daß wir das tun sollten. Ich bin nicht dumm. Aber mit anzusehen, wie das alles hier kaputtgeht …«

Er warf abermals einen Blick über die lärmende, überfüllte, rauchige Halle. Da waren sie nun, die in den Ecken zusammengekauerten Alten, die seit langer Zeit endlich wieder etwas zu essen und ein sicheres Dach über dem Kopf hatten; die Kleinen, die zwischen den Feuern spielten und denen die Tatsache, daß sie für den Augenblick frei von Schmutz, Hunger und Krankheiten waren, die Energie gab, allen anderen mit ihren wilden Spielen auf die Nerven zu gehen. Würde das das Ende von Vannors Traum bedeuten? Und von seinem eigenen Traum? Nicht, solange Jarvas noch einen einzigen Atemzug in seinem Körper spürte. Mit neuer Entschlossenheit wandte er sich wieder an Benziorn. »Es gibt jedoch«, sagte er gelassen, »noch eine andere Möglichkeit: Ich könnte mich stellen.«

»Nein, du Narr! Das kannst du nicht.« Benziorn, der die Augen vor Entsetzen weit aufgerissen hatte, hielt Jarvas am Arm fest, als müsse er ihn mit Gewalt aufhalten. »Was ist mit Tilda? Was ist mit dem Fremden, für den du solche Risiken eingegangen bist? Pendral muß wissen, daß du nicht allein warst bei dem, was du getan hast.« Seine Finger gruben sich schmerzhaft in den Arm des großen Mannes. »Jarvas, sie werden dich foltern, um herauszufinden, wo sich die anderen aufhalten – und am Ende wirst du keine andere Wahl haben, als sie zu verraten. Glaub mir, was du da vorschlägst, ist keine Lösung.«

»Was kann ich denn dann tun?« rief Jarvas. »Niemand kann heutzutage Nexis ohne Erlaubnis verlassen. Soll ich einfach meine Leute hier zurück in die Armenviertel jagen?«

»Dort sind sie im Augenblick vielleicht sicherer als hier«, erinnerte Benziorn ihn vorsichtig. »Wenn erst Gras über diese Sache gewachsen ist, können sie vielleicht zurückkehren – aber ich denke, du solltest ihnen sagen, daß sie jetzt besser anfangen, ihre Sachen zusammenzupacken. Falls sich die Notwendigkeit dazu ergeben sollte, müssen sie zum Aufbruch bereit sein. Ich würde mich an deiner Stelle auch um die Befestigung deiner Palisade kümmern und die vernünftigeren der Jungen hinaus auf die Straße schicken, damit sie uns warnen, wenn die Soldaten kommen. Anschließend wäre es vielleicht klug, heute nach Einbruch der Dunkelheit deine Leute von hier wegzubringen.«

Jarvas wußte, daß der Arzt recht hatte. Niemals seit seiner Kindheit war er den Tränen so nah gewesen. Es dauerte jedoch nicht lange, da erwiesen sich Benziorns Vorsichtsmaßnahmen als gerechtfertigt. Als es dunkel wurde, standen die Soldaten vor dem Tor.

Wachen, die die schmerzlich vertraute Uniform der Garnison trugen, zerrten Vannor die Spiraltreppe des Turms hinauf, und ihre Stiefel hallten auf dem kalten, harten Marmor laut wider. Aber selbst das Treppenhaus war viel wärmer als die Kälte draußen … Der Kaufmann spürte, wie er langsam in schläfrigem Vergessen versank, und kämpfte mit aller Kraft darum, einen klaren Verstand zu behalten, wachsam zu bleiben, sich nicht unterkriegen zu lassen; aber seine Arme und Beine waren gefesselt und ohnehin zu taub, um ihm noch zu gehorchen. Er war vollkommen hilflos – und wieder einmal in Miathans Gewalt.

Vannor wurde in das Gemach des Erzmagusch gebracht und gezwungen, auf einem üppigen, blutroten Teppich niederzuknien. Miathan, der die Wachen beiseite gescheucht hatte, stand schweigend vor ihm und blickte mit den glitzernden, ausdruckslosen Juwelen, die ihm als Augen dienten, auf den Gefangenen herab. Vannor schauderte. Miathans Gesicht hatte sich verändert. Die harte Arroganz seiner früheren Tage war in den tieferen Linien der Verbitterung und Grausamkeit noch deutlicher zu erkennen. Die Haut seines Gesichts wirkte wächsern und ungesund; um seine ausgebrannten Augen herum hatte sie sich zu leuchtendroten Narben zusammengezogen. Nur seine klauenartigen Hände, die er kaum stillhalten konnte, verrieten seinen Triumph. Der Kaufmann verspürte eine Angst, wie er sie noch nie zuvor erfahren hatte. Nicht einmal die Todesgeister, die Forral ermordet hatten, hatten ihn mit solchem Entsetzen erfüllt, einem Entsetzen, das seiner Hoffnung Hohn sprach und ihm seinen Mut raubte, als würde ihm unablässig das Blut aus den Adern gesogen.