Jharav hob den Korb hoch, als lägen nur Federn darin, und betrachtete ihr Werk voller Wohlwollen. »Das ist ein schönes Stück Arbeit«, sagte er zu ihr. »Dein Mann weiß deine vielen Fähigkeiten bestimmt zu schätzen.«
»Mein Mann wird es noch mehr zu schätzen wissen, wenn er diesen Eintopf nicht kalt essen muß!« schimpfte Nereni. Freundlichkeit war eine Sache, aber dies hier grenzte schon an Tändelei. Die kleine Frau war atemlos vor Empörung. Also wirklich, dieser Mann hatte eine Ehefrau zu Hause!
Jharav kicherte. »Betrachte mich als geschlagen, Herrin.« Er klang jedoch keineswegs niedergeschlagen, und er beeilte sich, ihren Ellbogen zu nehmen und ihr zu helfen, die schlüpfrigen, schmalen Stufen hinunterzuklettern, die zu dem Tor des Turms führten.
Die eisenbeschlagene Tür öffnet sich langsam mit einem Quietschen, und eine bleiche, zerlumpte Gestalt erhob sich von einem Haufen Pelze in der Ecke – wie eine Ratte, die aus ihrem Loch auftaucht. »Eliizar!« Nereni flog über den schmutzigen Fußboden, um ihren Mann in die Arme zu nehmen. Wieder einmal drehte sich ihr das Herz im Leibe herum, als sie die scharfen Kanten seiner Rippen unter seinem zerlumpten Hemd spürte. »Aber er erholt sich langsam«, sagte sie sich fest. »Mit jedem Tag, seit ich ihn besuchen darf, ist es mit seinen Wunden ein wenig besser geworden.«
»Nereni, geht es dir gut?« Eliizar hielt sie um Armeslänge von sich und spähte ihr ängstlich ins Gesicht. Obwohl sie am liebsten ihren Kopf an seiner Schulter geborgen und geweint hätte, zwang Nereni sich um seinetwillen, tapfer zu sein.
»Mir geht es gut, mein Liebster.« Irgendwo tief in sich verborgen fand sie ein Lächeln. »Und Aurian geht es auch gut, und sie wird von Tag zu Tag dicker!«
Sie wußte, was er als nächstes fragen würde, und fürchtete die Frage. Warum mußte er sich so sehr quälen?
»Gibt es etwas Neues von Yazour?« wollte der Schwertmeister mit leiser Stimme wissen. Nereni schüttelte den Kopf, denn beim Anblick des Schmerzes auf seinem Gesicht konnte sie ihrer Stimme nicht trauen. Er hatte Yazour wie einen Sohn geliebt. Beim Schnitter, es zerriß Nereni das Herz, ihn in so tiefem Kummer zu sehen.
»Komm«, sagte sie entschlossen. Dann griff sie nach seinem Arm und führte ihn zu seinem Nest aus Pelzen. »Komm, Eliizar, iß etwas Eintopf.«
Während Nereni sich Eliizars Wunde ansah – einen langen, schmalen Schnitt quer über die Muskeln seines Bauchs – und Salbe auftrug und frische Verbände anlegte, dankte sie dem Schnitter für die Felle. Dann holte sie Teller, Löffel und die zugedeckte Schale mit Eintopf aus dem Korb und dachte darüber nach, daß diese Pelze den beiden Männern in dem feuchten, eiskalten Kerker wahrscheinlich das Leben gerettet hatten. Die Geflügelten harten die Felle zwei oder drei Tage nach ihrer Gefangennahme hierhergebracht, nachdem Nereni sich bei dem Prinzen darüber beklagt hatte, daß das Turmzimmer zu kalt für Aurian war. Aber als die dunklen, herrlichen Pelze angekommen waren, war Nerenis Blut zu Eis erstarrt, und sie wünschte, sie hätte nie gesprochen. Das hier waren die Felle von großen Katzen, so wie Shia eine war! Sie hatte zu verhindert versucht, daß die junge Magusch sie zu Gesicht bekam, aber es war bereits zu spät gewesen.
Aurian hatte einen so furchtbaren Wutanfall gehabt, daß Nereni schon fürchtete, die Wehen würden auf der Stelle einsetzen. Obwohl Aurian mit nichts als ihren bloßen Händen bewaffnet war, hatte sie sich mit solcher Gewalt auf Harihn gestürzt, daß mehrere von seinen Wachen nötig waren, um sie festzuhalten – und auch das gelang erst, nachdem sie ihnen einige unübersehbare Verletzungen zugefügt hatte.
Beim Anblick dieser verfluchten Pelze war etwas in Aurian zerbrochen. Seit jener ersten, furchtbaren Nacht ihrer Gefangenschaft war sie so kühl und fest geblieben wie eine steinerne Bastion, und ihr Mut hatte Nereni neue Kraft gegeben. Aber nachdem die Felle gekommen waren, lag die kleine Frau nun Nacht für Nacht wach, denn bei Aurians bitterem, herzzerreißenden Schluchzen war an Schlaf nicht zu denken.
Nereni gab sich selbst die Schuld daran. Sie hatte augenblicklich jeden einzelnen Pelz zu Eliizar und Bohan hinuntergebracht und außerdem nie wieder ein Wort darüber verloren. Am folgenden Tag war Aurians Gesicht bleich, aber so gefaßt wie stets zuvor gewesen; trotzdem bemerkte Nereni jetzt, wenn sie sie ansah, einen zusätzlichen Schatten des Schmerzes um die Augen der Magusch und wußte, daß sie selbst dafür verantwortlich war.
Sobald sie sich davon überzeugt hatte, daß Eliizar seine Gefühle wieder unter Kontrolle hatte und aß, füllte sie noch eine weitere Schale mit Eintopf und brachte sie zu dem Eunuchen, der jämmerlich zusammengekauert unter seinem eigenen Stapel von Pelzen lag. Er selbst hätte nicht zu ihr kommen können. Seine Wächter, die seine gewaltige Stärke fürchteten, hatten ihn mit langen, schweren Ketten an einen Ring in der Wand gefesselt. Er war unversehrt aus dem Kampf hervorgegangen, wenn man einmal von den Schrammen absah, die die Soldaten ihm bei dem letzten Gefecht zugefügt hatten, aber seine Handgelenke – dick wie Nerenis Oberarme – waren von den schweren Fesseln aufgescheuert worden, denn er hatte mehrmals verzweifelt versucht, sich zu befreien. Wegen der Feuchtigkeit und des Schmutzes im Kerker waren seine Handgelenke jetzt nichts als eine vor sich hin faulende Masse eiternder Wunden.
Bohans dunkles Gesicht war mittlerweile ganz grau und hohlwangig. Obwohl er immer noch ein gewaltiger Koloß war, hatte er doch so viel Gewicht verloren, daß ihm sein schlaffes Heisch von den Knochen herabzuhängen schien wie einem Bettler seine Lumpen. Obgleich die Verletzungen des Eunuchen ursprünglich weit weniger ernst gewesen waren als die Eliizars, befand er sich offensichtlich in einem weit schlechteren Zustand. Nereni wußte auch, warum; sie hatte dasselbe schon bei Gefangenen in der Arena beobachtet. Gefesselt und hilflos, mit dem Gefühl, daß er seine geliebte Aurian im Stich gelassen hatte, hatte Bohan einfach den Willen zum Leben verloren.
Während sie dem Schnitter dafür dankte, daß es der Magusch erspart blieb, ihren Freund in diesem schrecklichen Zustand zu sehen, fütterte Nereni ihn zuerst mit seinem Eintopf. Während er aß, tröstete sie ihn mit Nachrichten und Botschaften von Aurian, die ihn ein klein wenig aufzuheitern schienen. Schließlich biß sie die Zähne zusammen und beugte sich über ihn, um seine Wunden zu säubern, was mittlerweile eine widerwärtige Aufgabe geworden war.
Sie mußte ihm furchtbar weh tun. Nereni erkannte an der Starre seines Gesichts und dem Rollen seiner Augen, welche Schmerzen er ausstand. Er saß jedoch einfach da und ertrug geduldig sein Leiden. Kein einziges Mal zuckte er auch nur, bis sie fertig war. Wie war es wohl, fragte Nereni sich, wenn man solche Schmerzen ausstehen mußte und einem selbst die kleine Erleichterung, laut aufzuschreien, verwehrt blieb? Dennoch zwang sie sich, ihr Werk zu beenden. Als es endlich soweit war und sie ihm seine schrecklich zugerichteten Handgelenke verbunden hatte, so gut sie das unter den Fesseln vermochte, zitterten sowohl sie als auch Bohan am ganzen Leib.
Nereni blickte kalt zu Jharav hinüber, der die ganze Zeit über an der Tür Wache gestanden und sie beobachtet hatte, ohne ein Wort zu sagen. »Es ist grausam von euch, ihn so zu fesseln«, fuhr sie ihn an. »Wie sollen seine Wunden jemals heilen mit diesen Eisenbändern, die seine Verletzungen aufscheuern und eitern lassen?«
Harihns Hauptmann ertrug es nicht, ihrem Blick zu begegnen. »Herrin, wende dich mit deinem Zorn an den Prinzen, denn das hier war nicht mein Werk«, sagte er schroff. Dann biß er sich auf die Lippen und warf Eliizar einen beklommenen Blick zu. »Was mich betrifft, so stimme ich dir zu«, murmelte er. »Aber wenn mir mein Leben lieb ist, kann ich nichts tun, und ihr dürft das auch nicht von mir verlangen.«