»Na, komm schon, Nereni, er hat recht«, wandte Eliizar scharf ein. »Du kannst dem Mann keinen Vorwurf daraus machen, daß er Befehle befolgt; wenn du es doch tust, mußt du auch mich für all die Grausamkeiten in der Arena verantwortlich machen, die den armen Kerlen, die unserer Fürsorge unterstanden, dort widerfahren sind.«
Nereni erbebte und wandte sich ab.
Während Nereni ihren Mann und Bohan unten in den engen Kerkern besuchte, die in die Grundfesten des Turms hineingehauen waren, nutzte Aurian ihre Abwesenheit, um auf dem Dach endlich ein wenig frische Luft zu schnappen. Für gewöhnlich reichten die ängstlichen Klagen der kleinen Frau über den Zustand der Leiter, um die Magusch davon abzuhalten, hier heraufzuklettern, aber sie war mittlerweile an einem Punkt angelangt, an dem sie es einfach nicht ertrug, auch nur einen weiteren Tag lang pausenlos die Wände dieser düsteren, engen Kammer anzustarren. Sie hatte das Gefühl, daß sie wenigstens für kurzes Zeit ins Freie mußte, weil sie sonst endgültig dem Wahnsinn anheimfallen würde.
Aurian saß, eingehüllt in ihren Umhang und eine Decke, neben der Brüstung des Turms, so daß die halb zerfallene Mauer sie vor dem schlimmsten Ansturm des Windes schützte. Ab und zu, wenn sie ihrer Gedanken müde war, spähte sie durch einen Riß in den Zinnen hinunter auf die trostlose Landschaft. Durch die schweren Wolken konnte man den Sonnenuntergang nicht beobachten, doch das Licht schwand rapide dahin und ließ die weiten Hänge und die überschatteten Felsspalten immer flacher werden, bis es so aussah, als hätte sich ein gewaltiges, schmutziggraues Leinentuch über die Welt gelegt.
Seit ihrer Gefangennahme waren nun schon viele Tage ins Land gegangen; fünfzehn, sechzehn oder mehr noch, dachte sie – sie war sich nicht mehr sicher. Noch nie zuvor hatte sie sich so verzweifelt und hilflos gefühlt – nicht einmal, als sie sich von den Wunden, die man ihr in der Arena zugefügt hatte, erholte und es ihr unmöglich gewesen war, nach Anvar zu suchen. Damals hatte sie wenigstens gewußt, daß Harihn an ihrer Stelle nach ihm suchte.
Der Gedanke an den Prinzen fachte Aurians Zorn noch weiter an. Dieser verräterische Bastard, dachte sie. Dieser ungeheure Narr! Ich hätte ihm doch ein Messer in den Rücken bohren sollen, als ich die Gelegenheit dazu hatte! Die Magusch kämpfte eine überwältigende Woge der Verzweiflung nieder. Warum hat er das getan? fragte sie sich. Warum hat er uns betrogen? Ich habe ihm das Leben gerettet, als sein Vater ihn hätte töten können. Was habe ich getan, daß er sich so gegen mich gestellt hat?
Es gab jedoch in Aurians Herzen, tief verborgen unter ihrem stürmischen Zorn, einen letzten Rest von Mitleid für Harihn. Er hatte seine Wahl getroffen – war Miathans Schmeicheleien erlegen –, und jetzt war er, wie sie es ihm gesagt hatte, genausosehr ein Gefangener wie sie. Wäre ihre eigene Situation nicht so verzweifelt gewesen und wäre da nicht die Sorge um Anvar und ihr Kind, hätte Aurian ihm vielleicht sogar verzeihen können. Wie die Dinge lagen, hätte sie ihm jedoch am liebsten mit bloßen Händen das Herz aus dem Leib gerissen und es ihm anschließend in den Rachen geschoben.
Die Magusch wünschte nur, sie wüßte, was aus ihren Kameraden geworden war, die nicht mehr bei ihr waren: Was war aus Shia geworden auf ihrer langen und einsamen Reise – o ihr Götter, wie sehr es ihr doch das Herz zerrissen hatte, als sie diese verfluchten Pelze gesehen hatte! Der Gedanke, daß eins dieser Felle vielleicht ihrer Freundin gehört haben mochte … Aber das war Unsinn, sagte sie sich entschlossen. Wenn Shia getötet worden wäre, hätte Harihn der Versuchung niemals widerstehen können, damit zu prahlen. Dann dachte sie an Yazour; lebte er überhaupt noch? Und Anvar, der in der Zitadelle von Aerillia gefangen war … Die Magusch preßte sich die Fäuste auf den Mund und biß sich auf die Fingerknöchel, um die Tränen niederzukämpfen. O Anvar, dachte sie, wie sehr ich dich vermisse! Und um die Dinge noch schlimmer zu machen, hatte sie bisher noch nicht einmal den Funken eines Plans, wie sie Anvar, ihr Kind oder sich selbst retten könnte, und das obwohl sie sich in jeder dieser langen, schlaflosen Nächte das Gehirn zermartert hatte.
Die Magusch erstarrte, als sie plötzlich die Gefühle ihres Kindes in ihren Gedanken spürte. Nach all dieser Zeit überraschte es sie immer noch, und sie war erschrocken darüber, feststellen zu müssen, daß ihre Verzweiflung ihrem Sohn Kummer bereitete. Aurian seufzte. »Mir geht es gut, mein Liebes …« Sie sandte Impulse der Liebe und des Trostes aus, aber gleichzeitig überschlugen sich ihre Gedanken. Während die Zeit für seine Geburt immer näher rückte, wurden die Gedanken ihres Sohnes immer stärker und deutlicher, und unglücklicherweise wuchs auch seine Empfänglichkeit für den Aufruhr in ihren eigenen Gefühlen.
Aurian runzelte die Stirn. Was konnte sie ihm sagen? Wie konnte sie ihm mit Worten, die er verstehen würde, erklären, warum in diesen Tagen so viel Schmerz von ihr ausging? Da sie wußte, daß er Zugang zu ihren Gefühlen hatte, hatte sie immer versucht, ihre intimsten Gedanken vor dem Kind abzuschirmen. Hatte der kleine Bursche etwa gelauscht? Ich werde in Zukunft wohl vorsichtiger sein müssen, beschloß sie.
Aurian fragte sich, ob diese enge geistige Verbindung wohl auch noch nach der Geburt ihres Sohnes bestehen würde. Weniger als einen Mond noch, dachte sie, und ich werde in der Lage sein, ihn in den Armen zu halten. Ich, eine Mutter! O ihr Götter, ich glaube nicht, daß ich mich jemals an diesen Gedanken gewöhnen werde.
Weniger als ein Mond noch, und du wirst nicht die Gelegenheit haben, ihn in den Armen zu halten, rief sie sich ins Gedächtnis, jedenfalls nicht, wenn du nicht aufhörst, herumzuträumen, und dir nicht endlich einen Plan zurechtlegst, um ihn zu retten.
Was war das? Aurian schrak zusammen, als sie ein neues Geräusch hörte. Es kam ganz aus der Nähe und übertönte das leise Wimmern des Windes; ein Scharren und ein Kratzen, das nur von Lederstiefeln auf Steinen herrühren konnte, gefolgt von dem Klappern loser Kieselsteine und einem gedämpften Fluch. Die Magusch sog scharf die Luft ein. Irgend jemand versuchte, draußen am Turm hochzuklettern.
Die Dämmerung senkte sich jetzt sehr schnell über das Land. In dem letzten noch verbliebenen Licht sah Aurian eine Wolke dampfenden Atems über der Brüstung erscheinen. Hastig sprang sie auf die Füße und wich zur Falltür zurück. Dann verfluchte sie ihre eigene Dummheit. Wer auch immer da versuchte, sich in den Turm hineinzuschleichen, war wohl kaum ein Freund von Harihn oder dem Erzmagusch. Einen Augenblick lang zog Aurians Herz sich in einer absurden und verzweifelten Hoffnung zusammen. Anvar! Konnte er irgendwie entkommen sein? »Mach dich nicht lächerlich«, sagte ihr der gesunden Menschenverstand. »Anvar ist eine zu kostbare Geisel, als daß es ihm ohne Hilfe gelingen könnte zu entkommen, und Shia kann unmöglich schon bei ihm sein.« Aurian runzelte die Stirn. Konnte es Yazour sein? Ihr Herz machte einen kleinen Satz bei dem Gedanken. Dennoch würde sie gut daran tun, ein wenig argwöhnisch zu sein. Die Magusch hatte keine Waffe zur Hand, und da sie ihr Kind beschützen mußte, kam ein Handgemenge ohnehin nicht in Frage.
Still wie ein Geist schlich sie hinter den halb verfallenen Schornstein, in dem die Rauchabzüge des Turms zusammenliefen. Dankbar für die tröstliche Wärme der groben Steine unter ihren eiskalten Händen, spähte sie hinter dem Schornstein hervor, so daß sie sehen konnte, was sich vor der Brüstung abspielte.
Aurian dankte den Göttern, daß ihre Nachtsichtigkeit ebenso wie ihr Verständnis für fremde Sprachen die einzigen Kräfte waren, die sie während ihrer Schwangerschaft nicht verlassen hatten. Das Dach war mittlerweile in tiefe Nachtschatten gehüllt. Plötzlich löste sich ein noch dunklerer Schatten aus der Düsternis und ließ sich leichtfüßig von der Brüstung heruntergleiten. Aurian versteifte sich. Ein einziger Blick auf die geschmeidigen, fließenden Bewegungen des Mannes sagten ihr, daß er nicht zu Harihns Leuten gehören konnte. Er war groß, wenn auch nicht ganz so groß wie sie selbst, hatte einen anmutigen, drahtigen Körper und dunkles, von silbernen Strähnen durchzogenes Haar, das ihm in Locken um die Schultern fiel. Trotz der Dunkelheit spiegelte es den schwachen Glanz des Schnees wider, dieser weißen Schneeverwehungen, die sich viele Meilen lang um den Turm herumzogen und verhinderten, daß es nachts vollkommen dunkel wurde.