Die Magusch beobachtete ihn mit wachsender Neugier und wagte es kaum zu atmen. Er schlich zur Falltür hin und kniete dort nieder, um in die Kammer hineinzuspähen, die ihr Gefängnis war. Aurian wußte, daß er sie dunkel und verlassen finden würde, denn sie hatte vergessen, Licht zu machen, bevor sie hier heraufkam, und Nereni war noch immer unten bei Eliizar. Der Mann hielt mit zur Seite geneigtem Kopf kurz inne und lauschte auf den Klang möglicher Stimmen. »Lady Aurian?« rief er leise. »Aurian, bist du da unten? Du brauchst keine Angst vor mir zu haben. Ich komme von deinem Freund Yazour.«
Schnell und schweigend schlüpfte die Magusch aus ihrem Versteck und trat von hinten an ihn heran. »Ich bin Aurian. Wer bist du?« flüsterte sie.
Der Mann sprang mit einem erschrockenen Fluch auf, und Aurian brachte ihn hastig wieder zum Schweigen. Bevor er nach seinem Schwert greifen konnte, hatte sie ihn am Ellbogen gepackt und in den Windschatten des Schornsteins gezerrt. Während sie seinen Arm immer noch umklammert hielt, benutzte sie ihre Nachtsichtigkeit, um sich sein Gesicht genau anzusehen. Es war kein Gesicht, das bei einem Fremden besonderes Vertrauen weckte. Es war eckig, knochig und unrasiert, mit einer vorspringenden Nase und unzähligen Krähenfüßen in den Winkeln der überschatteten, hellgrauen Augen, die er jetzt vor Entsetzen weit aufgerissen hatte, während er immer noch versuchte, sie in der für ihn undurchdringlichen Dunkelheit zu sehen.
Absurderweise bemerkte Aurian, daß ihr Mund sich zu dem ersten Lächeln seit vielen Tagen verzog. Ach du lieber Himmel, dachte sie. Kein Wunder, daß er so aussieht, als hätte er einen Geist erblickt. Wenn sich jemand so an mich herangeschlichen hätte … »Es tut mir leid«, sagte sie zu ihm und war überrascht, zu hören, wie ihr schon wieder eine andere Sprache über die Lippen kam. »Ich wollte dich nicht erschrecken. Ich bin Aurian.«
»Die Göttin sei gepriesen«, hauchte der Mann. »Mein Name …« Einen Augenblick lang zögerte er. »Mein Name ist Schiannath. Yazour hat mich geschickt, damit ich dir helfe, wenn ich kann.«
»Yazour geht es gut?« Aurians Sorgenlast wurde plötzlich ein wenig leichter.
»Er ist verwundet, aber er erholt sich langsam wieder«, erzählte Schiannath ihr mit ernster Stimme. »Die Göttin selbst hat mir befohlen, ihm zu helfen. Ich habe ihn im Paß gefunden. Eine große Katze hatte ihn angegriffen – und …«
Aurian kam plötzlich ein überaus köstlicher Gedanke. »Klang die Göttin, nun ja … ein wenig jähzorniger, als du es dir vielleicht vorgestellt hättest?« unterbrach sie ihn.
Der Mann runzelte die Stirn. »Ja, tatsächlich! Aber woher weißt du das? Spricht sie manchmal auch mit dir, Lady?«
»Das kann man wohl sagen«, erwiderte Aurian trocken. Sie mußte ein Kichern herunterschlucken. Ich frage mich, wie Shia das geschafft hat, dachte sie.
Sehr zum Erstaunen der Magusch fiel Schiannath plötzlich auf die Knie. »Herrin, du bist tatsächlich gesegnet«, sagte er. »In meinem Land verehren wir die Frauen, die ein Kind unter dem Herzen tragen, als die Erwählten der Göttin Iscalda. Ich schwöre, daß ich dich beschützen werde, denn das muß es sein, was die Göttin von mir wollte, als sie von mir verlangte, Yazour zu retten.« Er zögerte. »Aber wie kann ich dir helfen, Herrin? Ich kann kaum einen ganzen Turm voller Wachen bekämpfen, aber vielleicht, wenn du in der Lage wärst, hinunterzuklettern …« Er warf einen zweifelnden Blick auf Aurians gerundete Gestalt.
»Nein, das kann ich nicht«, sagte die Magusch schnell.
»Einer meiner Kameraden wird anderswo als Geisel festgehalten, und wenn ich entfliehe, wird er gewiß sterben. Aber es gibt doch etwas, was du für mich tun könntest, Schiannath, etwas, womit du mir ungeheuer helfen würdest. Hast du eine Waffe, die du mir leihen kannst. Ein Messer vielleicht? Etwas, das ich leicht verstecken könnte?«
»Natürlich.« Schiannath zog einen langen, schlanken Dolch aus seinem Gürtel. Als sie ihn entgegennahm, durchzuckte sie eine Woge der Erregung. Endlich war sie nicht mehr unbewaffnet und hilflos! Wenn ihr Kind geboren wurde, konnte sie es beschützen!
»Schiannath«, sagte sie ernst. »Ich kann dir nicht genug danken für deine Hilfe. Aber wo ist Yazour? Ist er so schlimm verletzt, daß er nicht klettern kann? Kannst du ihm eine Botschaft von mir überbringen?«
»Das kann ich auf jeden Fall machen«, sagte Schiannath eifrig. »Er wollte unbedingt zu dir. So wichtig war es ihm, daß er sogar seine Genesung gefährdet hat. Daher habe ich mich erboten, an seiner Stelle herzukommen und ihm, wenn möglich, Nachrichten von dir zu bringen.«
O ihr Götter! dachte Aurian. Ich wüßte ja zu gern, wie gut Yazours Xandim ist! Ich schätze, dieser arme Mann hier hat nicht die geringste Vorstellung davon, was ihm bevorsteht.
Der Xandim hätte ebensogut ihre Gedanken lesen können. »Es erscheint mir immer noch wie ein Wunder«, sagte er. »Yazour hat mir versprochen, daß du meine Sprache sprechen würdest, aber ihm fehlten die Worte, um das genauer zu erklären, und ich muß zugeben, daß ich ihm nicht geglaubt habe. Herrin, ich bin sicher, daß du niemals bei den Xandim warst – das wenigstens weiß ich. Wie kommt es, daß du unsere Sprache so gut beherrschst?«
Die Magusch biß sich auf die Lippen, denn sie hatte das Mißtrauen der Khazalim gegenüber Zauberern noch nicht vergessen. Waren die Xandim genauso? Wenn sie ihm die Wahrheit sagte, würde sie ihren so unerwartet aufgetauchten Freund dadurch vertreiben? »Sag die Wahrheit«, drängte sie ein innerer Instinkt. »Wenn du lügst, wird er es bestimmt merken – und das wird sein Mißtrauen gegen dich genauso bestärken wie die Wahrheit.«
Aurian holte tief Luft. »Schiannath … erinnerst du dich daran, daß du geschworen hast, mich zu beschützen? Wirst du dich an diesen Eid halten, ganz gleich, was ich dir erzähle?«
Der dunkelhaarige Mann runzelte die Stirn. »Herrin, du verlangst eine ganze Menge von mir. Wie kann ich dir auf etwas antworten, das ich noch nicht einmal gehört habe?« Er zögerte. »Aber ich habe einen Eid geleistet – und gleichgültig, was ein paar andere Leute sagen mögen, habe ich doch noch einen Funken Ehre im Leib. Außerdem hat die Göttin zu mir gesprochen. Ich weiß, daß es ihr Wille war, daß ich dir helfe, dir, einer ihrer Erwählten. Sprich also ohne Furcht. Welch schreckliches Geheimnis kann es sein, das dich so zögern läßt?«
Aurian sah ihm in die Augen. »Ich spreche deine Sprache, weil ich eine Zauberin bin.« Sie hielt abrupt inne und runzelte die Stirn. Das Wort, das über ihre Lippen gekommen war, hatte wenig Ähnlichkeit mit dem Khazalimwort für Zauberer, und seine Bedeutung war auch ein klein wenig anders. Es hatte sich angehört wie etwas, das sie nur mit ›Windauge‹ übersetzen konnte. Was, zum Kuckuck, hieß das? Schiannaths Gesicht hellte sich in plötzlichem Verstehen auf – ein erstickter Laut drang aus der Tiefe seiner Kehle, und Aurian sah zu ihrer Bestürzung, daß sein Gesicht vor Freunde aufleuchtete. »Ein Windauge! Gesegnete Göttin! Jetzt verstehe ich deinen Plan. Oh, vielen Dank. Vielen Dank!«
Aurian erschien seine Freude stark übertrieben, und plötzlich verließ sie der Mut. O nein, dachte sie. Ihr Götter, bitte laßt nicht zu, daß es wieder jemand wie Rabe ist, der nur meine Kräfte für seine eigenen Ziele mißbrauchen will. Das wäre einfach zu grausam.
»Warte«, sagte sie leise zu ihm. »Wieviel von unserer Geschichte hat Yazour dir erzählt?«
Schiannath schüttelte den Kopf. »Sehr wenig, um die Wahrheit zu sagen. Er lernt zwar meine Sprache, aber im Augenblick fehlen ihm noch so viele Worte. Ich habe gehofft, du könntest mir ein paar Dinge erklären, Herrin.«