»Ja«, seufzte Aurian, »ich glaube, das kann ich. Du hast ein Recht, zu wissen, worauf du dich da einläßt.« Mit diesen Worten setzte sie sich hin, lehnte sich gegen die warmen Steine des Schornsteins und zog sich ihre zerlumpte Decke fester um die Schultern. »Also«, begann sie geduldig, »so hat alles angefangen …«
Obwohl die Stunden, die bis zu Schiannaths Rückkehr vergingen, die längsten zu sein schienen, die Yazour je erlebt hatte, waren die Neuigkeiten, die der Xandim ihm überbrachte, mehr als eine Entschädigung für das Warten. Aurian war unverletzt, im Augenblick jedenfalls, und es war offensichtlich, daß Schiannath dem Zauber der Magusch verfallen war, dachte Yazour trocken. Der Krieger hatte seinen Retter noch nie so erregt gesehen. Obwohl es ihn über alle Maßen freute, zu hören, daß es Aurian soweit gutging, erfüllte der Rest von Schiannaths Erzählungen Yazour mit Betroffenheit. Shia war verschwunden, Rabe eine Verräterin, Eliizar und Bohan verletzt und eingekerkert. Anvar ein Gefangener der Geflügelten. Bevor der Xandim mit seinem Bericht zum Ende kam, versuchte Yazour bereits, wieder aufzustehen, und verlangte lautstark nach seinem Schwert.
»Nein.« Schiannath schüttelte den Kopf und hielt ihn mit sanfter Beharrlichkeit fest. »Aurian sagt, wir warten.«
»Warten?« Yazour war angewidert. »Wie kann ich warten, während meine Freunde leiden? Sie brauchen Hilfe. Verdammter Narr, du hast sie falsch verstanden!« Erst als er den ausdruckslosen Blick auf Schiannaths Gesicht sah, wurde dem Krieger bewußt, daß er in seiner eigenen Sprache gesprochen hatte.
Schiannaths Augen glitzerten. »Sie sagt, wir warten. Wenn das Kind kommt – dann kämpfen wir!« Seine Stimme klang plötzlich so hart wie Stein, und seine Finger gruben sich mit verletzender Kraft in Yazours Schulter. »Bevor du kämpfst, du mußt gesund werden«, fügte er scharf hinzu.
Widerwillig gab Yazour nach. »Woher sollen wir wissen, wann das Kind zur Welt kommt?« fragte er mürrisch.
»Jeden Tag halte ich Ausschau. Sie gibt ein Signal – eine Flamme im Fenster. Dann, dann kommen wir!« Seine Augen leuchteten vor Aufregung.
Yazour seufzte. Noch mehr Warterei! Aber Aurian hatte recht. Sie waren hoffnungslos in der Minderzahl, aber wenn sie wartete, bis ihre Kräfte zurückkehrten, würde sie auch wieder kämpfen können. In der Zwischenzeit, so schien es, mußte er sich in Geduld fassen – und versuchen, so schnell wie nur möglich wieder auf die Beine zu kommen.
17
Die Herausforderung
Parric war wieder einmal betrunken. Er hatte mit seinem Trinken den Punkt erreicht, an dem er zwar wußte, daß er betrunken war, aber es ihn nicht kümmerte. Das Trinken war sein einziger Trost gewesen an den langen, stumpfsinnigen Tagen, die dahingekrochen waren, seit das Windauge ihn von dem Berg gerettet hatte. Der Kavalleriemeister, der auf einem verschneiten Baumstamm vor dem großen, steinernen Turm saß, in dessen Spitze Chiamhs Kammer der Winde thronte, blickte über die Schulter hinweg zu dem drohend aufragenden Windschleier hinüber und schauderte bei der Erinnerung an diesen alptraumartigen Abstieg. Er hatte immer von sich geglaubt, zäh genug zu sein, um mit jeder Schwierigkeit fertigzuwerden, aber er hatte auch noch nie zuvor gegen einen Berg kämpfen müssen. O ihr Götter, dieser Marsch! … Durch endlosen Schnee waren sie getaumelt, gebeugt unter der Last eines sterbenden, alten Mannes, während der Sturm immer näher rückte. Und dann seine beharrliche Angst davor, daß diese monströsen Katzen sie aufspüren könnten … Gegen Müdigkeit und halb erfrorene Gliedmaßen hatten sie ankämpfen müssen und gegen das lähmende Bewußtsein, daß ein einziger falscher Schritt einen tödlichen Sturz über den Rand eines Felsvorsprungs bedeuten konnte … »Ihr Götter«, murmelte Parric mit belegter Stimme. »Ist es da ein Wunder, daß ich betrunken bin?«
Zum ersten Mal in seinem Leben hatte der Kavalleriemeister sich einer Situation nicht gewachsen gefühlt, und damit wurde er kaum fertig. »Was mache ich hier eigentlich?« murrte er etwa zum hundertsten Mal vor sich hin. »Ich bin ein einfacher, ehrlicher Soldat, jawohl; gebt mir ein Schwert in die Hand und ein gutes Pferd unter meinen Hintern, und ich werde mit allem fertig. Aber wenn ich es mit Bergen und Riesenkatzen zu tun habe und mit halbblinden Gespenstern, die mit dem Wind sprechen und sich dann plötzlich vor meinen Augen in ein verdammtes Pferd verwandeln …« Er schloß ein Auge und betrachtete die Lederflasche, die er in der Hand hielt, mit einem vorsichtigen und kritischen Blinzeln. »Nicht, daß er ein schlechter Kerl wäre, versteh mich nicht falsch – und er macht wirklich verdammt guten Met. Ein bißchen süß für meinen Geschmack, aber stark wie der Tritt eines Schlachtrosses! Maja würde das Zeug gefallen.«
Da lag natürlich auch der wahre Grund für seine Trinkerei vergraben. Parric hatte Heimweh nach Nexis, nach dem Nexis, wie es früher gewesen war und nie wieder sein würde. Er vermißte die Garnison und seine Verantwortung als Offizier. Er vermißte es, seine Fähigkeiten nutzen zu können und sie an die neuen Rekruten weiterzugeben. Vor allem vermißte er die Kameradschaft, die wüste Keilerei der Waffenübungen, die vertrauten Pflichten und Patrouillen, die durchzechten Nächte, die er mit Maja, Forral und Aurian im Unsichtbaren Einhorn verbracht hatte. Parric war betrunken, weil er wütend, frustriert und im Augenblick obendrein auch noch hilflos war. Obwohl er Angst um Aurian hatte und sich verzweifelt wünschte, sie endlich zu finden, mußte der Kavalleriemeister hier seine Zeit absitzen, bis der Mond sich verdunkelte, wie das Windauge es so poetisch ausgedrückt hatte.
»Warte«, hatte Chiamh ihm geraten. »Du kannst nicht allein gehen, nicht quer durchs Gebirge. Warte nur, bis die Zeit reif ist, und dann kannst du deiner Freundin mit einer Armee von Xandimsoldaten zu Hilfe eilen. Ich habe einen Plan.«
Der Plan war ganz in Ordnung, mußte Parric widerwillig zugeben. Zumindest hoffte er das. Der Kavalleriemeister wußte nichts von den Bräuchen der Xandim und konnte daher nicht anders, als Chiamh zu vertrauen und seinen Versicherungen zu glauben, daß Aurian in Incondors Turm zu finden sein würde, so wie er es in seinen Visionen auf den Winden gesehen hatte.
Trotz seiner Ungeduld mußte Parric bei dem Gedanken an Chiamhs Plan grinsen. Bei Chathak, der Junge hatte wirklich Nerven! Der Kavalleriemeister erinnerte sich an die Nacht, in der er und das junge Windauge in Chiamhs Höhle am Fuß des Turms gesessen und ihre Pläne geschmiedet hatten. (Wenn man es überhaupt eine Höhle nennen konnte.) Nach Parrics Erfahrung war eine Höhle ein Loch in einem Felsen oder eine geschützte Vertiefung in einer Felswand und kein Ort mit Möbeln, Betten, Bänken und Tischen, die anscheinend aus dem lebendigen Stein erwachsen waren. Chiamhs Vorhaben hatte dem Kavalleriemeister den Atem geraubt, so kühn hörte es sich an.
»Du kannst nicht auf die Hilfe der Xandim zählen«, hatte das Windauge gesagt und die Metflasche vage in Parrics Richtung geschwenkt. Seine großen, kurzsichtigen Augen hatten schon ein wenig geblinzelt, so betrunken war er. »Meine Leute sind zwar wild und schnell bei der Hand, wenn es darum geht, sich gegen die Khazalimräuber zu verteidigen, aber selbst einen Angriff zu starten hat nie zu unserer Philosophie gehört.« Parric fing die Flasche mit lange geübter Geschicklichkeit auf und nahm einen tiefen Zug, während Chiamh fortfuhr: »Aus meiner Vision, von der ich dir erzählt habe, weiß ich, daß deine Freunde, die hellen Mächte, Hilfe brauchen. Es gibt nur einen Weg, um die Xandim zu zwingen, für dich zu kämpfen, und das bedeutet, daß du selbst ihr Führer werden mußt.«
»Was?« Parric verschluckte sich an seinem Getränk und hustete. Blaue Flammen schossen in die Höhe, als ein paar Tropfen Met ins Feuer gelangten. Chiamh schlug ihm hilfsbereit auf den Rücken.
»Wenn der Mond dunkel ist, mußt du den Rudelfürsten zum Kampf um die Führung herausfordern. So will es die Sitte unseres Stammes«, sagte er. »Es wird natürlich einige Schwierigkeiten geben, denn du bist schließlich ein Fremdländer und nicht so geartet wie wir, aber unser Gesetz sagt, daß jeder die Herausforderung aussprechen darf und daß der Gewinner als Führer akzeptiert werden muß, zumindest bis zum nächsten Dunkelwerden des Mondes, wenn eine neue Herausforderung ausgesprochen werden darf. Bis dahin jedoch ist sein Wort Gesetz.«