Das Windauge wandte sich an Parric, der ihn verblüfft ansah. »Dieser Fremdländer kann uns führen, kann uns in Kampfkünsten unterweisen, die wir noch nicht kennen. Er suchte seine Kameraden, die von den Khazalim gefangengenommen worden sind, und er wird uns seine Hilfe gewähren, bis seine Freunde wieder frei sind und unser Land von unseren Widersachern gesäubert ist. Wenn das geschehen ist, verspricht er, auf die Rudelführerschaft zu verzichten und uns wieder in unserer früheren Abgeschiedenheit alleinzulassen. Ferner verspricht er, die Geheimnisse unseres Volkes für alle Zeit zu wahren. O Xandim – um unseres Landes und der Zukunft unserer Kinder willen, werdet ihr ihn anerkennen?«
Die tosende Zustimmung der Xandim hätte Partie beinahe zu Boden geworfen. »Chiamh, wenn man dich so reden hört … Alle Achtung«, sagte er dankbar zu dem jungen Mann.
Das Windauge zuckte bescheiden mit den Schultern. »Wer hätte das gedacht – ich jedenfalls zu allerletzt.«
Die Menge scharte sich um sie und beäugte Parric neugierig. Einige besonders kühne Xandim streckten die Hand aus, um seine fremdartige Kleidung zu berühren. Sangra, die die ganze Zeit über mit dem Rücken an dem stehenden Stein gelehnt und Elewin mit gezücktem Schwert verteidigt hatte, schob sich nun mit dem alten Haushofmeister im Schlepptau durch die wogende Menge. Ihr Gesicht glühte vor Erleichterung. »Gut gemacht, Chiamh!« Begeistert schlug sie ihm auf die Schulter.
Einige der Xandim hatten sich in einer Traube um den früheren Rudelfürsten geschart. Zu Parrics Erleichterung halfen sie dem erschöpften, verletzten Tier, sich zitternd wieder auf die Beine zu stellen. »Jetzt, da die Leute mich akzeptiert zu haben scheinen, wirst du da Phalias zurückverwandeln?« fragte er das Windauge.
Chiamh schüttelte den Kopf. »Zu gefährlich«, sagte er ausdruckslos. »Vielleicht ist nicht jeder so überzeugt von dem, was ich gesagt habe, und solange Phalias in diesem Zustand ist, ist er ein Faustpfand für unsere Sicherheit, denn wenn er sprechen könnte, würde er sich dir gewiß widersetzen. Unser früherer Rudelfürst ist ein stolzer, hartnäckiger Bursche.« Eine Grimasse wie die Erinnerung an einen alten Schmerz überflog sein Gesicht, dann riß er sich zusammen, und seine Miene hellte sich wieder auf. »Wir werden noch Zeit genug haben, ihn wiederherzustellen, wenn wir getan haben, was wir uns vorgenommen haben, aber jetzt, o Rudelfürst, wartet ein Festmahl auf dich!«
»Den Göttern sei Dank dafür«, sagte Parric mit echtem Gefühl. Dann schnitt er plötzlich ein Gesicht. »Chiamh, ich muß doch wohl keine Rede halten oder so etwas?«
»Wo liegt da das Problem?« zog Sangra ihn auf. »Nach ein paar Weinschläuchen haben wir für gewöhnlich alle Mühe damit, dich wieder zum Schweigen zu bringen!«
Chiamh, dessen Lippen zuckten und ein Lächeln zu verbergen suchten, machte sich eilig daran, den entsetzten Kavalleriemeister zu beschwichtigen. »Keine Angst, Parric, ich denke, ich habe gesagt, was gesagt werden mußte.« Schließlich huschte doch noch ein Grinsen über sein Gesicht. »Was tätest du bloß ohne mich?«
»Ja, wirklich, was?« pflichtete Parric ihm bei. »Und morgen werde ich dich schon wieder brauchen, mein Freund, wenn wir uns zum Kampf rüsten!«
Meiriel sah von ihrem Versteck hinter den hohen Steinen zu, wie endlich der letzte der Xandim des Plateau verließ, um den neuen Rudelfürsten zu seinem Fest zu geleiten. »Rudelfürst, wahrhaftig!« schnaubte sie verächtlich, aber endlich tat dieser erbärmliche Sterbliche einmal etwas. Die Magusch lächelte. Wenn Parric vorhatte, die Xandim zu benutzen, um Aurian zu retten, hieß daß, daß er sie zu ihr bringen würde, zu ihr und dem Ungeheuer, das sie in ihrem Leib trug. »Vielen Dank, Parric«, summte sie leise vor sich hin, »du hast mir gerade einen langen, harten Marsch durch die Berge erspart. Und wenn du mit Aurian zurückkommst, werde ich hier sein.«
18
Der Geist des Berges
»So, jetzt weißt du alles«, beendete Anvar seinen Bericht. »Das ist die ganze Geschichte. Für den Augenblick.« Er nahm einen Schluck Wein, um sich die Kehle anzufeuchten.
Elster sah ihn mit leicht zur Seite geneigtem Kopf an, und ihre dunklen, leuchtenden Augen waren fest auf sein Gesicht gerichtet. Sie runzelte die Stirn. »Jetzt verstehe ich auch, warum es so lange gedauert hat, bis du dich mir anvertraut hast.«
Anvar nickte. »Zuerst einmal mußte ich davon überzeugt sein, daß ich dir auch vertrauen kann.«
»Und jetzt vertraust du mir?« Elsters Augen wurden schmal.
»Bei den Göttern, irgend jemandem muß ich ja vertrauen!« rief Anvar. »Elster, ich muß unbedingt hier raus!«
Die Ärztin seufzte. Seit sie und Cygnus begonnen hatten, sich um diesen Gefangenen zu kümmern, wuchs ihre Zuneigung zu ihm in geradezu beängstigendem Maße. Aber zu ihrer Schande brachte sie einfach nicht den Mut auf, um ihm bei irgendeinem seiner immer seltsamer werdenden Fluchtpläne zu helfen. »Es tut mir leid, Anvar, aber was könnte ich tun?« Ihre Flügel raschelten, als sie die Schultern hochzog, »Mein eigenes Leben hängt an einem seidenen Faden, und wären da nicht meine besonderen Fähigkeiten, hätte Schwarzkralle mich schon vor langer Zeit getötet. So, wie die Dinge liegen, braucht er mich noch, um Königin Rabe zu heilen …«
»Wie geht es ihr?« unterbrach Anvar sie.
Elster spreizte hilflos ihre Schwingen. »Sie lebt, aber sie weigert sich zu sprechen, und wir müssen sie zwingen, etwas zu sich zu nehmen. Sobald wir das Zimmer betreten, dreht sie ihr Gesicht zur Wand. Ich sehe, daß deine Augen sich verhärten, wenn ich von ihr spreche, und doch bin ich sicher, wenn du sie sehen könntest, würde sie dir leid tun. Obwohl es schwer zu sagen ist, da sie sich ja weigert, mit uns zu reden, bin ich davon überzeugt, daß sie sich dessen, was sie getan hat, zutiefst schämt.«
»Soweit es mich betrifft, hat sie sich ihr Leiden selbst zuzuschreiben.« Anvars Stimme war hart. »Bitte mich nicht, Mitleid mit ihr zu haben, Elster. Obwohl das, was man ihr angetan hat, selbst mir entsetzlich erscheint, kann ich ihr trotzdem niemals verzeihen, daß sie uns verraten hat.«
»Aber dennoch, wenn du das arme Kind sehen könntest, würde dein Herz vielleicht weicher werden.« Elster schüttelte traurig den Kopf. »Ich kann mir nicht vorstellen, welche Wirkung deine Neuigkeiten auf sie haben werden. Vielleicht würde ihr das Wissen, daß der Geist ihres Liebsten im Bann eures alten Feindes stand, mehr schaden als helfen.«
»Dann glaubst du mir also?« Anvar entspannte sich ein wenig. »Ich war mir nicht so sicher, ob du das tun würdest.«
Elster nahm ihm den vergessenen Kelch aus der Hand und leerte den Wein mit einem einzigen Schluck. »Oh, ich glaube dir durchaus, Anvar. Zuviel von deiner Geschichte klingt überzeugend.« Dann drehte sie sich um, griff nach der Flasche, die in einer dunklen Ecke jenseits des Feuers stand, und füllte den Kelch noch einmal, bevor sie ihn zurückgab. »Es fällt mir auch nicht schwer zu glauben, daß der Hohepriester sich mit einem bösen Zauberer verbündet hat«, fuhr sie fort. »Er ist verzweifelt darauf bedacht, die verlorene Magie des Himmelsvolks wiederherzustellen, ein Umstand, der vielleicht verständlich ist: Aber Schwarzkralles Geist ist zu hoch geflogen und abgestürzt – in die unendlichen Tiefen des Wahnsinns.« Sie zog eine Grimasse. »Jetzt ist er davon überzeugt, in Wahrheit der wiedergeborene Incondor zu sein.«
»Was?« Anvar riß vor Staunen die Augen auf. »Aurian hat mir von Incondor erzählt und davon, daß er für die Verheerung verantwortlich war.« Er schüttelte den Kopf. »Kein Wunder, daß Schwarzkralle und Miathan einander als Verbündete gewählt haben. Beide sind sie bei ihrem Streben nach Macht dem Wahnsinn verfallen.« Anvar beugte sich vor und umfaßte das Handgelenk der Ärztin. »Elster, du mußt mir helfen zu entkommen.«
»Anvar, das kann ich nicht«, unterbrach ihn Elster mit ausdrucksloser Stimme. »Noch nicht. Ich würde dir ja beistehen, genauso wie Cygnus, aber Schwarzkralle läßt uns keinen Augenblick aus den Augen. Außerdem, was könnten wir schon für dich tun? Die einzige Möglichkeit, hier herauszukommen, ist zu fliegen, und Cygnus und ich haben nicht die Kraft, dich gemeinsam so weit durch die Luft zu tragen, daß du den Kriegern entkommen könntest, die der Hohepriester hinter uns herschicken würde.«