»Was ist mit den anderen Geflügelten?« fragte Anvar. »Es muß doch gewiß einige Leute geben, die nicht hinter dem Hohenpriester stehen?«
»Das wagt niemand. Die Stadt ist gelähmt von Furcht und Mißtrauen, Anvar. Schwarzkralles Spione sind überall, und es ist unmöglich zu sagen, wer zu ihnen gehört und wer nicht. Du mußt verstehen, daß es viele von uns gibt, die sich wünschen, daß die alte Macht des Himmelsvolkes wiederhergestellt wird – was immer es auch kosten mag.« Elster seufzte. »Wenn es Leute gibt, die uns helfen würden, und ich bin überzeugt davon, daß es sie gibt, wagen sie es nicht, sich zu offenbaren. Anvar, ich wünschte wirklich, ich könnte dir helfen, aber du mußt geduldig sein. Die Zeit ist noch nicht reif, gegen Schwarzkralle aufzubegehren. Wenn Cygnus und ich in diesem Augenblick deine Flucht bewirken würden, wären wir nicht mehr in der Lage, die Leute zum Widerstand gegen ihn zusammenzuscharen, nicht ohne die Königin. Und er würde sofort wissen, wer für diese Tat verantwortlich ist. Wir würden unser Leben ganz umsonst verlieren.«
»Aber ihr könntet doch mit mir kommen«, unterbrach Anvar sie. »Die Götter allein wissen, wie sehr wir euch brauchen könnten.«
Elsters Federn zitterten. »Was? Unsere rechtmäßige Königin im Stich lassen? Ohne die ärztliche Kunst von Cygnus und mir würde Rabe gewiß sterben.« Als sie den Zorn in Anvars Augen aufblitzen sah, erhob sie sich rasch. »Dir mag es gleichgültig sein, ob die Königin überlebt oder nicht, Anvar, aber mir ist es das nicht. Das darf es nicht sein.« Als sie sah, daß er dagegen protestieren wollte, bereitete sie schnell ihren Abschied vor. »Ich werde zurückkehren, sobald ich kann«, versprach sie und schwang sich mit einer Hast aus dem Höhleneingang, der recht unziemlich war für eine Meisterin und Ärztin.
Es war immer noch dunkel, obwohl ein schwaches Glühen der Morgendämmerung bereits den bleigrauen Himmel jenseits der Berge erhellte. Elster schwebte empor, spürte den eisigen Wind durch ihre Federn pfeifen und flog eine weit ausholende Kurve, die sie ein gutes Stück von dem Felsen wegbrachte. Zu ihrer Erleichterung waren zwischen den Türmen der Stadt immer noch einige verstreute Lichter zu sehen, die es ihr ermöglichten, ihre Orientierung wiederzufinden und nach Hause zurückzukehren. Sie haßte es, des Nachts fliegen zu müssen – man konnte die Gefahren solchen Tuns gar nicht hoch genug einschätzen –, aber wenn sie Anvar unbemerkt besuchen wollte, war das die einzige Zeit, zu der sie es tun konnte, während die anderen Geflügelten sicher in ihren Betten lagen.
Elsters Heim lag in einem halb zerfallenen Türmchen, das seitlich an einem uralten Gebäude im unteren Teil von Aerillia emporragte. Zu Flammenschwinges Zeit waren die Unterkünfte der Ärztin großartiger gewesen und näher beim Palast, aber jetzt fühlte sie sich sicherer an einem verborgenen, einsameren Ort. Einige Löcher im Dach und etwas Zugluft waren durchaus zu ertragen, wenn sie auf diese Weise dem Hohenpriester nicht allzu oft begegnen mußte.
Nachdem sie vorsichtig auf ihrer verschneiten Veranda gelandet war, drückte Elster die Tür zu ihren Räumen auf und zögerte, eine Hand immer noch auf der Türklinke, als sie die Düsternis in dem Zimmer vor sich sah. Ich habe doch sicher eine Lampe brennen lassen? dachte sie stirnrunzelnd und zuckte dann mit den Schultern. Vielleicht war sie während ihrer langen Abwesenheit erloschen, oder ein Zug von einem der undichten Fenster hatte sie ausgeblasen.
Die Ärztin war keine drei Schritte in das Zimmer hineingegangen, als sie von hinten gepackt wurde.
»Warum hat man mich gefangengenommen?« Mit blauen Flecken übersät, gefesselt, bewacht und im Angesicht von Schwarzkralles harten, ausdruckslosen Augen, fiel es Elster schwer, ihre Stimme unter Kontrolle zu halten. Er weiß es, dachte sie verzweifelt. O ihr Götter – er muß es wissen! Die Ärztin war noch nie zuvor in dem Turm des Hohenpriesters im Tempel von Yinze gewesen, und die Grabesschwärze der auf Hochglanz polierten Steinmauern ließ sie erzittern. Draußen wirbelte das kreischende Jammern von Incondors Klagelied um den Turm herum, sandte seine Schauer durch den Körper der Ärztin und machte es ihr unmöglich, ihre Gedanken auf irgendeine Möglichkeit der Verteidigung zu konzentrieren.
Schwarzkralle hob sarkastisch die Augenbrauen. »Hast du wirklich geglaubt, du wärst die einzige, die in der Dunkelheit zu fliegen bereit ist?«
Elster unterdrückte ein Stöhnen und bemühte sich, ihr Gesicht ausdruckslos zu halten. »Wie meinst du das, Hohenpriester? Eine Ärztin muß oft in der Dunkelheit fliegen, wenn es sich um einen Notfall handelt …«
Schwarzkralle brach in lautes, freudloses Gelächter aus – das unangenehmste Geräusch, das Elster je gehört hatte. »Elster, mein Spion hat sich direkt hinter dem Höhleneingang versteckt. Er hat alles mitangehört. Wenn du das nächste Mal unbedingt das Unschuldslamm spielen willst, würde ich doch vorschlagen, daß du gelegentlich mal nach draußen siehst, wenn du dich mit einem Gefangenen verbündest.« Seine Augen glitzerten böse. »Nicht, daß es für dich ein nächstes Mal geben würde. Ich habe immer noch Cygnus, um Rabe am Leben zu halten, obwohl deine unvorsichtigen Worte auch ihn in Verdammnis stürzen.« Er zuckte mit den Schultern. »Für den Augenblick werde ich ihm jedoch gestatten, sein Leben zu behalten, solange er noch gebraucht wird.« Da war es wieder, dieses freudlose Lächeln.
Die Woge des Zorns, mit der sie begriff, daß Schwarzkralle ihre Furcht genoß, war das einzige, was Elster davon abhielt, zusammenzubrechen – bis zu den nächsten Worten des Hohenpriesters: »Es ist mir zu Ohren gekommen, Elster, daß du ein wenig nachlässig in deinen religiösen Pflichten bist. Ich habe dich noch nie bei einem Opfer im Tempel gesehen.« Sein Gesicht wurde hart. »Heute abend bei Sonnenuntergang werden wir diese Unterlassung wiedergutmachen. Du wirst die nächste Zeremonie miterleben – in der Rolle des Opfers!«
Selbst für eine Unsterbliche war es eine lange Zeit gewesen. Ewigkeiten waren vergangen, seit die Moldan des Aerillia-Berges zum letztenmal wach gewesen war. Sie maß die dazwischenliegenden Jahrhunderte an den kleinen Veränderungen in der Gesellschaft der Geflügelten, die auf und in ihrem Körper wohnten: Die Neuerungen in der Kultur, in der Kleidung und vor allem in der Sprache. Die Moldan waren solche Wechsel gewohnt. Für sie war ein Jahrhundert nur wie ein Augenblinzeln. Heutzutage konnten nur noch Ereignisse von größter Wichtigkeit sie wecken – bedeutende Zeiten, Zeiten des Kampfes und des Wandels.
Was hatte sie diesmal geweckt? Die Moldan streckte ihre Sinne aus und ließ sie über die Domäne gleiten, die ihr Körper war, streifte über die Flanken des Berges, die ihr Fleisch und ihre Knochen waren und ihre Haut.
Ah, das war wichtig. In den oberen Regionen ihres Gipfels war der Tempel, dessen Fundament gelegt worden war, als sie sich gerade wieder einmal in den Nebeln des Schlafs verlor. Dieser Tempel war nun zu einem gewaltigen Gebäude geworden. Der gepeinigte Felsen in Gestalt einer mit Klauen besetzten, in den Himmel greifenden Hand sah wie geschmolzene, verzerrte Knochen aus, und die Moldan schauderte, als sie sich an den verwüsteten Leichnam ihres Bruders fern im Osten erinnerte. Welch kranker Geist hatte ein so gräßliches Bauwerk ersonnen?
Die Stadt unterhalb des Tempels war reicher und größer geworden. Hier war die zarte Schönheit, die ihr als typisch für die Architektur des Himmelsvolkes in Erinnerung geblieben war, zu vielen schönen und unglaublichen Bauten erblüht. In der Vergangenheit waren der Moldan diese dahinflitzenden Geflügelten gleichgültig gewesen, die sich nach dem Abschied der Dwelvenbevölkerung auf ihr niedergelassen hatten. Damals waren sie ihr als nichtige und sehr vergängliche Wesen erschienen. Jetzt verspürte sie zum ersten Mal ein Gefühl selbstgefälligen Stolzes angesichts ihrer Errungenschaften. Abgesehen von diesem gräßlichen Tempel auf ihrem Gipfel hatten die Werke der Geflügelten viel dazu beigetragen, ihrer eigenen, natürlichen Schönheit neuen Glanz zu verleihen.