Voller Bedauern wandte die Moldan ihre Aufmerksamkeit von der Betrachtung Aerillias ab. Und genau in diesem Augenblick spürte sie es – das langsame, unstete Näherkommen einer Quelle unglaublicher Macht.
Im oberen Teil der Stadt klapperten Teller und Tassen, und alle möglichen Dinge fielen von den Regalen herunter, als eine Mischung aus Entsetzen und Entzücken wie ein Schaudern durch die massige Gestalt der Moldan lief. Die gefangene Königin Rabe in ihrem einsamen Turm warf sich im Schlaf auf die andere Seite und schrie vor Schmerz auf. Im Tempel des Yinze blickte Schwarzkralle stirnrunzelnd von dem Opfer auf, das er gerade hatte töten wollen, als das bedrohlich wirkende, schwarze Bauwerk auf seinen gewaltigen Grundfesten erschauderte. In dem älteren Viertel der Stadt geriet ein bereits halb zerfallener Turm ins Wanken und stürzte in einer Wolke von Schnee auf das Gesicht des Berges.
Die Moldan schenkte den winzigen Wesen, die ihre Hänge heimsuchten, keine Beachtung. Ihre ganze Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf das Herannahen des Erdenstabs.
»Anvar? Anvar, kannst du mich hören? Zum letzten Mal, antworte mir endlich!« Mit gespannt erhobenem Kopf wartete Shia viele Atemzüge lang, aber es kam keine Erwiderung. Verzweifelt wandte die Katze sich wieder an ihre Kameraden. »Der Mensch muß eingeschlafen sein«, seufzte sie. »Ich bekomme ihn nicht wach.«
Khanu schüttelte seine Mähne. »Und was machen wir jetzt?« wollte er wissen.
Hreeza hob eine gewaltige Pfote und brachte ihn mit einem Hieb hinter die Ohren zum Schweigen. Er stürzte sich mit zornig blitzenden Augen auf sie, aber Shia gebot seiner Rachsucht mit scharfen Worten Einhalt. Sie wußte, daß die große Katze gewaltige Anstrengungen unternahm, um nicht den Mut zu verlieren, aber sie wußte auch, daß Hreeza, ebenso wie sie selbst, entsetzt über das war, was sie am Ende ihrer Reise vorgefunden hatten.
Wäre Shia ein Mensch gewesen, hätte sie vielleicht mit den Göttern über die Ungerechtigkeit des Ganzen gehadert. Der lange, beschwerliche Marsch über die steinernen Knie und die verschneite Brust des Aerilliaberges war schwer und aufreibend gewesen und hatte sie mehrere harte, hungrige Tage gekostet, in denen sie im Schutz der Dunkelheit gewandert waren, um den scharfen Augen ihrer gefiederten Feinde zu entgehen. Während sich die Katzen mühsam ihren Weg den Aerilliaberg hinauf bahnten, veränderte sich die Landschaft immer wieder. Die bebauten Hänge der Geflügelten hatten steilen, mit Fichten und Schierlingstannen bewaldeten Tälern Platz gemacht, die ihrerseits in ein karges, einsames Land übergegangen waren, in dem es nur hoch aufragende Felswände und schneebedeckte Hügel gab.
Shia und ihre Kameraden mußten feststellen, daß sie immer langsamer vorankamen, je tiefer der Schnee und je kälter die pfeifenden Winde wurden. Trotz ihrer dicken Felle litten die Katzen grausam unter Kälte und Hunger, denn alle Tiere waren schon vor langer Zeit von den unwirtlichen oberen Hängen des Gipfels geflüchtet. Grimmig kämpften sie sich immer weiter. Khanu und Hreeza wurden nur von Shias Drohungen aufrechtgehalten, die keinen Zweifel, daran ließen, daß Shia sie gnadenlos dort zurücklassen würde, wo sie gerade lagen, falls sie nicht mehr weiterlaufen könnten.
Als an diesem Tag die Dämmerung nahte, taumelten die Katzen im Gänsemarsch hintereinander durch eine schmale, von Schneemassen erstickte Schlucht. Als sie den Gipfel erreichten, fielen die gezackten Bergspitzen zu ihrer Rechten schräg ab, so daß die niedrigeren Berge der nördlichen Gebirgskette vor ihnen lagen. Die zerklüfteten, schneebedeckten Gipfel schienen wie Inseln in einem Meer aus blutroten Wolken zu treiben. Der glimmende Ball der gerade erst aufgestiegenen Sonne lauerte jenseits der zusammen-gekauerten Schultern der Berge und beleuchtete dichte, schwere Wolken, die am Himmel über ihnen aufzogen.
Die wetterfühlige Hreeza stieß ein tiefes, kehliges Knurren aus. »Was ich da sehe, gefällt mir überhaupt nicht«, murmelte sie.
»Wenn dir das schon nicht gefällt, würde ich vorschlagen, du schaust einmal in die andere Richtung.« Shias Gedankenstimme klang erstickt. Die alte Katze wandte sich von dem unheilvollen Sonnenaufgang ab, und der Atem stockte ihr in der Kehle. Sie blickte hinauf, und hinauf und hinauf auf steil in die Höhe ragende Felswände …
»Und was machen wir jetzt?« fragte Khanu noch einmal, wobei er genau aufpaßte, daß er Hreeza nicht zu nahe kam. »Ich kann mir nicht vorstellen, wie wir dort hinaufklettern sollen.«
»Ich weiß es nicht.« Shia funkelte den Erdenstab wütend an, der auf dem verschneiten Boden lag, und sie mußte gegen den aus Wut und schierer Verzweiflung geborenen Drang ankämpfen, das verflixte, erbärmliche Ding so zu zerkauen, daß nur noch Splitter davon übrigblieben. Ihr Atem wehte wie eine kristallene Wolke vor ihrem Maul, als sie einen tiefen Seufzer ausstieß. »Ich nehme an, wir werden warten müssen, bis Anvar aufwacht, vielleicht kennt er ja einen Weg nach oben.«
Hreeza blickte abermals auf die glatten, steilen Felswände, die jäh in die Höhe schossen und hoch oben in den Wolken verschwanden. Shia spürte einen seltsamen Widerwillen in den Gedanken ihrer alten Freundin und fragte sich, was nun kommen mochte. »Also?« fragte sie endlich. »Wirst du den Rest des Tages an diesem Gedanken herumkauen wie an einem alten Knochen, oder wirst du ihn ausspucken und mit uns teilen?«
Die alte Katze wich ihrem Blick aus. »Bist du dir wirklich sicher«, fragte sie langsam, »daß dieser Mensch nur schläft? Was ist, wenn er tot ist?«
Flammen schossen aus den Tiefen von Shias Augen. »Damit werde ich mich nicht abfinden.« In ihrer Stimme schwang deutlich eine stille Drohung mit. »Aurians Feinde brauchen Anvar als Geisel. Warum sollten sie ihn töten?«
»Und doch spüre ich deine Zweifel«, beharrte Hreeza. »Es kann alles mögliche dort oben geschehen sein. Ein Unfall – eine Änderung ihrer Pläne … Hier oben zu bleiben, wo wir dem Wetter und unseren Feinden hilflos ausgesetzt sind, ist reiner Wahnsinn.«
»Anvar ist nicht tot!« Shia bleckte die Zähne und ging drohend auf die alte Katze zu.
»Warum warten wir nicht einfach eine Weile ab und sehen, was passiert?« vermittelte Khanu zwischen den beiden zornigen Weibchen. »Schließlich«, fügte er hinzu, »sind wir nicht den ganzen Weg hier heraufgekommen, um so schnell aufzugeben. Und während wir darauf warten, daß Shias Mensch aufwacht, könnten wir doch die Ausläufer dieses Felsens erkunden. Vielleicht gibt es weiter hinten eine Stelle, von der aus wir leichter hinaufklettern können.«
Shia sah ihn dankbar an. Khanu entwickelte langsam sowohl die schärferen Sinne eines jagenden Weibchens als auch die sturmerprobte Weisheit eines älteren, erfahreneren Tieres. Gerade in diesem Augenblick war sie ihm für seine Einmischung besonders dankbar. Es war von größter Wichtigkeit, daß Anvar nicht mehr in der Macht des Erzmagusch war, wenn Aurians Kind geboren wurde, so daß die Magusch frei war, alles zu tun, um das Leben ihres Jungen zu retten. Der langsame und schwierige Marsch hatte in der großen Katze ein Fieber ängstlicher Ungeduld geweckt, aber das war keine Entschuldigung für ihren unvernünftigen Ärger über Hreezas Einmischung. Mit unverbrüchlicher Treue war ihr die alte Katze den ganzen Weg über gefolgt, nur um sich am Ende durch dieses letzte, unbesiegbare Hindernis bezwungen zu sehen. Selbst wenn Khanu und ich eine Möglichkeit finden können, diesen Felsen hinaufzuklettern, dachte Shia, wird es Hreeza nicht möglich sein, und das weiß sie. Das ist der wahre Grund für ihre Verstocktheit; sie kann die Demütigung, zurückgelassen zu werden, nicht ertragen.