»Mensch, wir können keinen anderen Weg nach oben finden. Shia hat beschlossen, zu dir hinaufzuklettern, also wäre es nur vernünftig, wenn du eine Weile lang nicht versuchen würdest, mit ihr zu sprechen. Sie wird ihre ganze Konzentration brauchen, wenn sie überleben soll.«
»Halte sie auf! Das darf sie nicht tun«, rief Anvar. »Es ist unmöglich, diesen Felsen zu erklimmen!« In Gedanken hörte er das trockene, freudlose Kichern der Katze.
»Es ist zu spät, um sie aufzuhalten. Sie ist bereits aufgebrochen. Aber vergiß nicht, daß etwas, was für einen Menschen unmöglich ist, für eine Katze nicht unbedingt auch unmöglich sein muß. Ihre Klauen können auch die winzigsten Risse im Felsen finden, und sie kann ihre Glieder weiter strecken, als es einem kleinen Menschen möglich wäre.« Dann hörte Anvar, wie sich ein Unterton des Zweifels in die Stimme der alten Katze hineinstahl. »Das heißt, wenn ihre Kraft dazu reicht.« Hreezas Worte verklangen in bekümmertem Schweigen.
Anvar eilte zum Höhleneingang und beugte sich gefährlich weit hinaus. Er versuchte, durch die dicken Wolkenschichten und die wirbelnden Schneeschleier hindurch nach unten zu spähen. Es war hoffnungslos. Der Sturm raubte ihm vollkommen die Sicht. Nachdem er eingesehen hatte, daß Shia eine ganze Weile brauchen würde, um bis zu seiner Höhle zu gelangen, und daß es auch keinen Sinn haben würde, wenn er hier draußen blieb und erfror, kehrte Anvar zu seinem Feuer zurück. Taub vor Entsetzen, setzte er sich nieder, starrte blicklos in die flackernden, frostblauen Flammen und begann zu beten.
Am Fuße des Felsens beendete die alte Katze ihre Unterhaltung mit dem verzweifelten Menschen und fand sich plötzlich allein. Über ihrem Kopf sah sie noch die zuckende Bewegung von Khanus Schwanz, kurz bevor er in dem Schneesturm verschwand. Hreezas eigener Schwanz peitschte vor Wut über den Boden. »Komm zurück, du junger Narr!« brüllte sie. »Shia hat dir befohlen, hier unten zu bleiben!«
Von weiter oben klang Khanus Stimme zu ihr herunter, gepreßt und heiser, während er versuchte, auf dem schroffen Felsen Halt zu finden. »Shia hat sich geirrt«, sagte er mit ausdrucksloser Stimme. »Ich zweifle nicht daran, daß sie die Höhle erreichen wird, und wenn sie sie erreicht, wird sie meine Hilfe brauchen.« Plötzlich bekam seine Stimme etwas Hinterlistiges. »Wenn du ihr natürlich erzählst, was ich vorhabe, könnte sich das als eine fatale Ablenkung erweisen, aber das mußt du mit deinem Gewissen ausmachen, Alte. Und jetzt laß mich in Ruhe – diese Kletterpartie ist härter, als sie aussieht.«
Hreeza wandte sich vor Wut schnaubend von dem schrecklichen Felsen ab. Sie hatte keine Götter, an die sie sich hätte wenden können, und verfügte auch nicht über die den Menschen gegebene Erleichterung des Fluchens. Ihre Kameraden, die sie als zu alt, zu erschöpft und zu schwach für den letzten Rest des Weges betrachtet hatten, hatten nicht einmal daran gedacht, sie in ihre Pläne miteinzubeziehen. Angetrieben von der Dringlichkeit ihrer Aufgabe, hatten sie sie zurückgelassen, so daß sie nun in diesem schrecklichen Schneesturm ganz auf sich allein gestellt war. Zorn und Ärger schossen in Hreeza auf und durchfluteten ihre Glieder, die bereits steif und taub wurden, mit einer Woge heißen Bluts. Sie würden sie also hier im Schnee einfach umkommen lassen, wie? Nun, das würde man ja sehen. Da war immer noch ein Funken Leben in der alten Katze, und dieses Leben würde sie teuer verkaufen – und zu ihren eigenen Bedingungen.
Wie lange war sie geklettert? Shia konnte sich nicht daran erinnern. Die Zeit hatte sich zu einer Ewigkeit dahingezogen, einer Ewigkeit, die diesen ganzen eisigen Felsen umfaßte, an dem sie sich mit der Kraft schierer Verzweiflung festklammerte; die Grenzen ihrer Welt waren enger geworden, hatten sich zusammengezogen auf die Steine, die direkt vor ihr lagen, auf den nächsten Riß oder die nächste Spalte im Felsen, die ihren zerschundenen, aufgerissenen Klauen einen wenn auch noch so geringen Halt geben konnten.
Der Berg verschwamm vor Shias Augen, so erschöpft war sie, und der Stab, den sie mit ihren Kiefern umklammerte, behinderte sie beim Atmen und versperrte ihr die Sicht. Ihre Gliedmaßen, die sie unnatürlich von sich gestreckt hatte, um sich auf dem Felsen festzuhalten, fühlten sich an, als würden sie nur noch von Bändern aus glühendem Feuer zusammengehalten. Während ihr ganzes Gewicht an ihren Klauen hing, wagte Shia nicht, an den endlosen Sturz in die Tiefe zu denken, der sie erwartete, falls sie auch nur für einen Augenblick schwächer wurde. Sorgfältig vermied sie jeden Gedanken an die Tatsache, daß ihre selbstgestellte Aufgabe beinahe unlösbar war. Statt dessen ging sie einfach weiter und weigerte sich aufzugeben; sie kämpfte eine endlose Reihe kleiner Kriege um jeden einzelnen, brennenden Atemzug. Zoll um Zoll mühte sie sich mit winzigsten Bewegungen den Berg hinauf und sah aus wie eine kleine, schwarze Fliege auf dem Gesicht dieser gewaltigen, unnachgiebigen Wand aus Stein.
»Shia?« Anvars vorsichtige Stimme durchbrach ihre Konzentration wie ein Peitschenschlag. Ruckartig wurde sie aus ihrer Trance des Leidens und Erduldens herausgerissen und verlor plötzlich jeden Willen zum Weitergehen. Ihr Gewicht schien sich zu verdoppeln, und ihre Klauen rutschten verzweifelt über die glatte, steinerne Oberfläche, während sie ein ganzes Stück haltlos über den Felsen glitt und um ein Haar den Stab fallengelassen hätte. Ihr Herz schlug in ihrer Kehle, und ihre Klauen gruben verzweifelt tiefe Furchen in den halb verfallenen Stein, bis sie endlich wieder Halt fand.
Anvars Entsetzensschrei hallte noch immer in ihrem Schädel wider. Als sich das Hämmern des Blutes in ihren Ohren endlich gelegt hatte, hörte sie ihn sich selbst verfluchen, mit einer Stimme, die mehr als nur ein wenig zitterte. Die große Katze lehnte ihren Kopf müde gegen den eisigen Stein und wartete, bis ihr Atem wieder ruhiger ging und ihre Gliedmaßen aufhörten zu zittern. In der Zwischenzeit lenkte sie sich von ihrer gerade, erst ausgestandenen Angst ab, indem sie Anvar ganz genau sagte, was sie von ihm hielt. Das dauerte eine ganze Weile, und als sie endlich damit fertig war, fühlte Shia sich wieder kräftig genug, um weiterzugehen.
Jetzt, da sie sich ihrer Umgebung bewußt wurde, bemerkte die Katze, daß der Schneesturm langsam nachließ, und sie sah auch, warum Anvar gezwungen gewesen war, das Risiko einzugehen, sie abzulenken.
»Du mußt dich jetzt ein wenig nach links bewegen, Shia«, sagte er zu ihr. »Um ein Haar hättest du die Höhle verpaßt.«
Shia verzieh ihm auf der Stelle. Über ihr erstreckte sich der Felsen bis hinauf in die Wolken, vorbei an jenem dunklen Flecken, wo der Höhleneingang lag, und Shia schauderte bei dem Gedanken, endlos weiterzuklettern, bis ihre Kräfte versagten und sie abstürzte …
»Hör auf damit!« Anvars Stimme schnitt wie ein Messer durch ihre verzweifelten Gedanken. »Na, komm schon, Shia«, versuchte er sie zu überreden, »du schaffst es. Du bist doch schon beinahe hier.«
Seine Worte gaben der erschöpften Katze neuen Mut. Anvar hatte natürlich recht. Im Vergleich zu der Entfernung, die sie bereits zurückgelegt hatte, war dieses kleine Stück so gut wie gar nichts! »Bei solchen Gelegenheiten verstehe ich, warum Aurian dich so gern hat«, sagte sie dankbar zu dem Magusch. Gestärkt durch die Wärme ihrer Freundschaft zu diesem Menschen, sammelte Shia die letzten Reste ihrer dahinschwindenden Kraft und setzte ihren Klettermarsch fort.
Mit einem letzten, erschöpften Kraftakt zog die große Katze sich auf den Felsvorsprung vor dem Höhleneingang, wobei Anvar ihr mit starken Händen unter ihre vorderen Gliedmaßen griff. Nach so langer Zeit konnte sie sich nun endlich ihrer kostbaren Last entledigen, und mit einem heißen Gefühl des Triumphes ließ sie den Erdenstab Anvar vor die Füße fallen, bevor sie auf dem Boden zusammenbrach, als wären ihre Knochen aus Gummi.