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Shias Brust hob und senkte sich in hektischen Stößen, und ihr Blick war verschwommen vor Erschöpfung, während Anvars Hände sanft den Schmerz aus ihren verkrampften, zitternden Gliedern massierten. Seine Berührung sandte eine kribbelnde Wärme durch ihre überdehnten, müden Muskeln, und anschließend spürte Shia eine Woge des Wohlbehagens und erneuerter Energien. Als ihr Blick wieder klar wurde, sah sie einen schimmernden blauen Dunst um seine Hände und begriff, daß Anvar Magie benutzte, so wie Aurian es in der Wüste getan hatte, um ihr ein gewisses Maß an Kraft zurückzugeben. Nach einigen Minuten streckte Shia sich genüßlich und setzte sich auf. Anvar ließ in seinen Bemühungen nach und legte ihr sanft eine Hand auf ihren glänzenden, breiten Kopf. »Das war eine mächtige Kletterpartie, meine tapfere Freundin«, sagte er leise und mit stockender Stimme. »Shia, ich weiß nicht, wie ich dir danken soll.«

»Nun, da solltest du dir aber besser etwas ausdenken«, gab Shia spitz zurück, »und übrigens habe ich nicht die Absicht, das noch einmal zu tun.«

Anvar, der vor lauter Erleichterung in Gelächter ausbrach, schlang seine Arme um die große Katze und drückte sie fest an sich. Shia ihrerseits ließ sich wie ein verspieltes Kätzchen auf den Rücken rollen, umfing ihn mit ihren großen Pfoten und rieb ihren Kopf an seiner Schulter, bis die Höhle unter dem dröhnenden Grollen ihres Schnurrens vibrierte.

»Helft mir! …« Wäre da nicht dieser ängstliche Gedankenruf gewesen, hätte Anvar das schwache, mitleiderregende Wimmern, das ihn begleitete, überhaupt nicht bemerkt. Das kaum hörbare Geräusch wäre unbeachtet in seinem freudigen, ausgelassenen Wiedersehen mit Shia untergegangen.

»Wer, zum Kuckuck, ist das denn?« fragte der Magusch, während er sich aus der Umarmung der großen Katze löste.

»Um seinetwillen hoffe ich, daß es nicht derjenige ist, von dem ich vermute, daß er es ist«, murmelte Shia zornig, während sie und Anvar zum Höhleneingang eilten, um hinauszuspähen.

»Die Götter mögen uns beistehen!« rief Anvar. »Noch eine Katze!«

Shia lugte an dem Magusch vorbei. »Es ist Khanu«, sagte sie. Die junge Katze, die direkt unter dem Felsvorsprung der Höhle hing, hatte nur noch mit den Vorderpfoten Halt gefunden und war offensichtlich am Ende ihrer Kraft. Schon jetzt konnte sie sich kaum noch festhalten. »Anvar, kannst du ihn zu fassen bekommen?« rief Shia.

Der Magusch lag bereits der Länge nach auf dem Bauch und beugte sich über den Abgrund. »Verflucht noch mal, ich schaffe es nicht – nicht ganz … Aber warte, ich habe eine Idee!« Mühsam raffte er sich wieder auf, schoß zurück in die Höhle und kehrte mit dem Stab der Erde zurück. Während er selbst sich am oberen Ende festklammerte, dort wo der Kristall eingelassen war, ließ er das andere Ende zu der verängstigten jungen Katze hinunter.

»Nimm das und halt es ganz fest!« rief Anvar. Als Khanu den Stab mit seinen Kiefern umschloß, verband der Magusch seinen Willen mit den gewaltigen Kräften des Stabes und zog, als wolle er einen Fisch aus dem Fluß herausziehen. Khanu, der den Stab fest zwischen den Zähnen hielt, flog den letzten Meter den Felsen hinauf durch die Luft, angetrieben von Anvars Kraft, die durch die Verbindung mit der Macht des Artefakts gewaltige Ausmaße angenommen hatte.

Unglücklicherweise hatte der Magusch den Kraftaufwand, den er benötigen würde, überschätzt. Nachdem Khanu den Stab losgelassen hatte, wirbelte er an Anvar und Shia vorbei in die Höhle hinein, rollte nur um Haaresbreite am Feuer vorbei, um hart gegen die Wand dahinter zu prallen, wo er erschrocken, atemlos und mit zerschundenen Gliedern liegenblieb, während die anderen auf ihn zugelaufen kamen.

»Du Dummkopf! Du idiotischer, junger Narr!« machte Shia ihrem Ärger fauchend Luft. »Habe ich dir nicht gesagt, du sollst unten bleiben?«

Khanu, der im Augenblick noch nicht in der Lage war, sich zu verteidigen, machte einen jämmerlichen Eindruck. Während Anvar noch spürte, wie ein Hauch Mitleid für die junge Katze in ihm aufstieg, bemerkte er aus den Augenwinkeln den Hauch eines Schattens über dem hellen Höhleneingang. Verdammt! Himmelsleute! Anvar dachte schnell nach und griff nach dem Stapel Katzenhäute, der neben seinem Bett lag und warf die Felle über Shia und Khanu in ihrer dunklen Ecke. »Rührt euch nicht von der Stelle! Und seid ganz still!« warnte er die Katzen, während ihm noch gerade rechtzeitig einfiel, daß er auch den Stab verstecken mußte.

Das Schlagen von Flügeln, mit dem die Himmelsleute die Höhle betraten, brachte Shias schockierte, wütende Proteste zum Schweigen. Jetzt, da der Schneesturm sich gelegt hatte, brachten Anvars Wachen ihm seine tägliche Nahrungsration, und der Magusch verfluchte sich dafür, daß er das vergessen hatte. Dank sei den Göttern, daß sie nicht früher gekommen sind, dachte er.

Sobald die Geflügelten wieder weg waren, tauchten Shia und Khanu unter den Pelzen auf, als hätten sie sich verbrannt. Beide schüttelten sich vor Zorn und Widerwillen, und Anvar machte ihnen keinen Vorwurf. Er wußte, wie er sich fühlen würde, wenn er gezwungen gewesen wäre, unter einem Stapel menschlicher Leichen Zuflucht zu suchen. Er fiel auf die Knie, legte einen Arm um jede der großen Katzen und sagte: »Es tut mir leid, aber es war die einzige Möglichkeit, euch zu verstecken.«

Khanu schlich sich in eine Ecke und begann zu würgen, aber Shia starrte nur haßerfüllt auf die Felle. »Was meinst du, wie viele das sind?« fragte sie Anvar. Ihre Stimme hatte die Schärfe von Eis und Stahl.

»Zehn – vielleicht ein Dutzend«, antwortete Anvar. »Um ehrlich zu sein, ich brauchte sie, um zu überleben, aber sie haben mich mit solchem Entsetzen erfüllt, daß ich nicht den Wunsch hatte, sie genauer zu untersuchen. Ich kann nicht einmal ihren Anblick ertragen.« Er schauderte.

Die große Katze sah ihn ernst an. »Du bist ein Freund der Katzen, Anvar. Die, die diese Pelze einst trugen, würden es uns nicht verübeln, wenn wir sie jetzt benutzen. Aber was diese meuchelnden Himmelsleute betrifft – « ihr Blick flackerte wie kaltes Feuer. »Du hast jetzt den Stab, Anvar. Wann fangen wir an? Ich möchte heute noch jemanden töten. Die Himmelsleute werden mir für diese Grausamkeit mit ihrem eigenen Blut zahlen.«

Anvar hatte nichts gegen Shias Pläne einzuwenden. Er hatte bereits genug Zeit in diesem verdammten Loch verschwendet, und auch er hatte einige Schulden zu begleichen. »Zuerst müßt ihr beide, du und Khanu, etwas essen und euch ein wenig ausruhen«, sagte er zu ihr. »Wenn ich erst einmal anfange, möchte ich meine Sache auch gründlich machen.«

Während Shia und ihr Kamerad das Fleisch, das die Geflügelten gebracht hatten, miteinander teilten, griff Anvar nach dem Stab der Erde und setzte sich mit dem schlanken, schlangenförmigen Artefakt in den Händen neben das Feuer. Bei der Berührung des Magusch begann der funkelnde Kristall, den die Schlange mit ihrem Kiefer umklammerte, in einem anschwellenden, smaragdgrünen Leuchten zu erblühen, und das magisch aufgeladene Holz summte und vibrierte mit solcher Wucht, daß Anvar seinen ganzen Willen brauchte, um die Energie zurückzuhalten, bis er sie endlich auf ein Ziel richten durfte. Der Stab war Aurians Geschenk und der Schlüssel zu seiner Freiheit, der durch Shias heroisches Wagnis gegen alle Hoffnung in seine Hände gelangt war. Ermutigt durch den Gedanken an seine Liebste, begann Anvar, Pläne für seine Flucht und seine Rache zu schmieden.

Elster war, obwohl sie es nicht wagte, ihm offen zu helfen, recht verschwenderisch mit ihren Informationen gewesen. Anvar hatte das Gebäude nur aus der Ferne gesehen, aber er wußte, daß der bedrohlich wirkende Bau, der den Aerilliaberg krönte, das Zentrum und der Sitz von Schwarzkralles Macht war und ebenso der Ort, an dem er wahrscheinlich zu finden war. Mit der ehrfurchtgebietenden Macht des Erdenstabs würde Anvar in der Lage sein, den Tempel direkt anzugreifen – mitten durch das Herz des Berges hindurch.

Für einen Augenblick verzogen sich die Lippen des Magusch zu einem grimmigen Lächeln. Zu lange waren er und Aurian hilflose Gefangene gewesen. Jetzt war es an der Zeit, den Spieß umzudrehen. Bei den Göttern, sie würden es ihren Feinden schon zeigen!